Eine Zeit lang benötigte Florin Emhardt eine Sondergenehmigung, um mit seinem Gitarren-Ensemble zu proben. Prüfungsauftritte mussten in kleinen Besetzungen stattfinden; Vortragsabende fielen aus. Sein Studienabschluss hat sich wegen der Corona-Krise verzögert. Ähnlich wie Emhardt, der in Trossingen Schulmusik mit Schwerpunkt Jazz und Pop sowie klassische Gitarre studiert, ergeht es rund 17 000 Studierenden an Deutschlands staatlichen Musikhochschulen. Das aktuelle Wintersemester ist bereits das vierte Semester, in dem zukünftige Cellistinnen und Kirchenmusiker, Toningenieure, Dirigentinnen oder Komponisten nur eingeschränkt studieren können.
Wer Musikprofi werden will, wählt hierzulande bevorzugt eine staatliche Einrichtung; es gibt nur wenige private Einrichtungen auf dem gleichen Niveau. Die Pandemie hat für einen großen Digitalisierungsschub auch an den 24 staatlichen Musikhochschulen in Deutschland gesorgt. Sie erproben Konzepte aus dem Bereich Blended Learning, E-Learning und Distance Learning. Videokonferenzen werden mit noch modernerer Technik gestaltet, neue Lern-Plattformen entwickelt.
Die Musikhochschule Lübeck mit ihren circa 380 Studenten zeigt, welches Innovationspotenzial auch kleinere Einrichtungen entwickeln können. Bereits im April 2020 ging hier die "Virtuelle MHL" an den Start. Podcasts und Webinare, Online-Unterricht und Übungsformate fürs Zuhause ermöglichten es, im Lockdown den Lehrbetrieb aufrechtzuerhalten. Um die Online-Angebote zu professionalisieren, wurde eine neue Stelle für digitale Lehre eingerichtet. "Zu Beginn war die Virtuelle MHL nur eine Notlösung", meint der Lübecker Kompositionsstudent Benjamin Janisch. "Im Laufe der Zeit hat sich jedoch gezeigt, dass sie auch ein Türöffner für neue Lehrmöglichkeiten sein kann." Besonders gefiel Janisch ein musikhistorisches Online-Seminar, bei dem der Brahms-Experte Wolfgang Sandberger seine Vorträge als Video aufnahm und mit Klang- und Bildbeispielen ergänzte.
Corona und Konzerte:"Im Büro muss man keine Flammenwerfer installieren können"
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Auch Janischs Kompositionsunterricht kann ohne persönliche Begegnung stattfinden. "Vorab lasse ich dem Professor meine Arbeit zukommen; der Unterricht läuft dann über Zoom und Skype. Dieses Format funktioniert sehr gut", erzählt der Student. Professor Rico Gubler, Präsident der Musikhochschule Lübeck, resümiert: "An vielen Stellen ist nun Routine eingekehrt, auch wenn die Belastung hoch bleibt."
Am reibungslosesten verlief bislang die Umstellung auf neue Unterrichtsformate an jenen Musikhochschulen, wo bereits zuvor im Bereich digitaler Technologien gearbeitet wurde. Die entsprechenden Abteilungen können nun den Wandel am Ort unterstützen. Das geschieht etwa in Trossingen, wo vor zehn Jahren das Landeszentrum Musik-Design-Performance gegründet wurde. In Detmold bringt sich das Zentrum für Musik- und Filminformatik in die digitale Lehre ein. An der Berliner Universität der Künste gibt es die Forschungsstelle "Appmusik", die sich mit dem Phänomen des Musikmachens mittels Apps auf Smartphones oder Tablets beschäftigt. Spezielle Apps können dazu dienen, mit anderen zu musizieren, zu komponieren, neue Möglichkeiten des Musikmachens auszuprobieren oder Notensammlungen digital zu verwalten.
Die Feinarbeit am Klang klappt online nicht sonderlich gut
Zu den größten Herausforderungen gehört es, den Instrumental- oder Gesangsunterricht sowie Fächer wie Chor, Kammermusik und Orchester in die digitale Welt zu verlegen. "Das klangliche Erleben ist immer eingeschränkt, das Zusammenspiel aufgrund der Zeitverzögerung kaum möglich", meint Christiane Iven, Professorin für Gesang an der Hochschule für Musik und Theater München. "Es fehlt bei Lehrenden und Studierenden unter anderem oft an Hardware, Software, technischem Wissen sowie an einer schnellen Internetverbindung. Digitaler künstlerischer Einzelunterricht bleibt für mich eine Notlösung." Auch Benjamin Janisch, Kompositionsstudent in Lübeck, äußert sich in dieser Hinsicht kritisch. "Im Fach Klavier habe ich gemerkt, dass wichtige Aspekte wie die Arbeit am Klang oder an der Körperspannung sich nicht gut über Online-Portale vermitteln lassen", erzählt er.
Dass Dozenten und Studenten musikalischer Fächer angesichts digitaler Lehrformate erhebliche Bedenken haben, hat Oliver Krämer, Professor für Musikpädagogik an der Hochschule für Musik und Theater Rostock, in einer Verlaufsstudie nachgewiesen. Gemeinsam mit seiner Mitarbeiterin Helen Hammerich befragte er etwa 800 Lehrkräfte und 800 Studentinnen und Studenten von 16 Musikhochschulen aus Deutschland und Österreich. "Zwar erhoffen sich unter den Studierenden 64 Prozent eine Erleichterung durch die flexiblere Zeitgestaltung und die Unabhängigkeit vom Hochschulort", stellt Krämer fest. "Jedoch lehnen im künstlerischen Bereich ein Viertel der Lehrenden und sogar 35 Prozent der Studenten die Online-Lehre als ungeeignet ab. 58 Prozent der Lehrenden geben an, dass die Online-Lehre zu einem Substanzverlust geführt hat."
Musikerinnen und Musiker erproben Software aus dem Profi-Sport
"Unterdessen hält in einigen Klavierabteilungen der digitale Konzertflügel Einzug, der die Tastenanschläge des Schülers ohne Verzögerung auf das Instrument des Lehrers überträgt. Musikerinnen und Musiker experimentieren mit Software aus dem Profi-Sport, wo Videos sekundengenau live von mehreren Benutzern kommentiert werden, mit Texten, Zeichnungen, Symbolen oder Audios. Die Kommentare im Dialog von Musizierenden und ihren Kommilitonen und Lehrern sollten sekundengenau sein, damit man weiß, um welche Stelle der musikalischen Interpretation es gerade geht. Zudem laufen Forschungsprojekte zum Ensemble-Spiel im digitalen Raum; Lern-Plattformen für Musiktheorie werden entworfen.
"Einige der digitalen Formate haben sich gut entwickelt", stellt der Trossinger Student Florin Emhardt fest. "Der Aufwand für das Studium ist aber gestiegen. Es kostet viel mehr Selbstdisziplin, allein zu Hause zu üben oder Hausarbeiten anzufertigen." In Zukunft wird die Lehre an den Musikhochschulen wohl auf einen Mix aus Selbststudium, digitaler Lernunterstützung und Präsenzstunden hinauslaufen. "Die Streaming-Angebote werden wieder stark zugunsten von Präsenz-Konzerten zurückgehen", vermutet Rico Gubler, Präsident der Musikhochschule Lübeck. "Trotzdem wird die Kompetenz, für Streamings Musik aufzunehmen, weiterhin unterrichtet und neben dem Live-Auftrittstraining einen neuen Platz erhalten."
Dass sich digitale Formate etablieren werden, macht zwar den Studienablauf flexibler, dürfte aber zugleich die soziale Ungleichheit unter den Studierenden verstärken. "Wer eine Familie hat, neben dem Studium jobben muss oder sich die digitale Ausrüstung nicht so einfach leisten kann, wird schneller abgehängt", gibt der Rostocker Professor Oliver Krämer zu bedenken.
Die Bewerberzahlen für musikalische Studiengänge sind bislang trotz Corona stabil geblieben. "Bei uns haben die Bewerber zunächst ein Video zur Begutachtung eingeschickt und danach ihr Können bei einer Videokonferenz unter Beweis gestellt", erzählt Oliver Krämer. "Das ist insgesamt besser gelaufen, als von den Beteiligten zunächst erwartet." In seiner Befragung hat Krämer festgestellt, dass fast die Hälfte der Lehrer und ein Drittel der Studenten glauben, dass die Eignungsprüfungen auch in Zukunft zumindest teilweise digital ablaufen.
Die Hochschulen unterstützen ihre Studierenden in puncto Berufsplanung
Wie wird es den zukünftigen Musikschaffenden ergehen, wenn sie schließlich ihr Examen in der Tasche haben? "Wir alle sorgen uns, wie es in den nächsten Jahren mit dem Musikleben weitergeht. Die Jobsituation wird wohl noch schwieriger", meint die Gesangsprofessorin Christiane Iven. Sie nimmt an, dass sich der Trend zu einer "beruflichen Patchwork-Existenz" verstärkt. "Man ist nicht nur solistisch tätig, sondern auch in Feldern wie Unterrichten oder Musikmanagement. Viele Studierende halten Ausschau nach einem Plan B und wollen sich beruflich breiter aufstellen", so Iven.
Entsprechend bauen die Musikhochschulen ihr Angebot im Bereich der Karriereplanung aus, kooperieren mit Coaches und Weiterbildungs-Anbietern, um ihre Absolventen bestmöglich auf die Arbeitswelt vorzubereiten. "In den Bereichen Musikbusiness und Karriere-Planung haben wir verschiedene Kooperationen in die Wege geleitet, um digitale Formate an mehreren Hochschulen anzubieten", erklärt der Lübecker Hochschulpräsident Rico Gubler. "Das Wissen in diesem Bereich lässt sich gut in Podcasts aufbereiten, die von den Studierenden asynchron bearbeitet werden können."
Musikstudent Florin Emhardt aus Trossingen setzt jedenfalls für seine berufliche Zukunft auf mehrere Standbeine: Er kann sich sowohl eine künstlerische Karriere mit seinem experimentellen Gitarrenensemble als auch eine pädagogische Tätigkeit vorstellen.