Musiker:Bevor die Karriere vergeigt ist

Viele Musiker leiden unter Lampenfieber und Versagensängsten - dem soll nun schon im Studium begegnet werden.

Tobias Asmuth

(SZ vom 3.6.2003) Alles lief gut: Früh erhielt Georg Schuller (Name geändert) Engagements in renommierten Orchestern, er trat in den bekanntesten Konzerthäusern der Welt auf, reiste für Tourneen durch Amerika, schloss gut dotierte Plattenverträge ab.

Violinistinnen

Auch das gehört zum Beruf: Musikwettbewerbe. Violinistinnen bei "Jugend musiziert".

(Foto: dpa)

Dann kam der Abend im Leipziger Gewandhaus. Auf dem Programm stand ein Konzert von Brahms. Bei einem langen Streichersolo steigerte sich Schullers übliche Nervosität zur Panik: Das Herz fing an zu rasen, Adrenalin schoss durch den Körper, der Arm versteifte sich. Der Geiger hatte plötzlich das Gefühl, eine Säge in der Hand zu halten.

Das große Tabu

Seit jenem Konzert quälte den Virtuosen die Angst, vor Publikum zu versagen. "Ich habe über acht Jahre einen Kampf gegen einen Alptraum geführt - und ihn verloren", sagt Schuller. Die so erfolgreich begonnene Laufbahn war zu Ende - und Schuller ein psychisches Wrack. Die Angst-Symptome reichten vom Ohrensausen über den Tunneleffekt bis zu Bewusstseinsstörungen und liefen wie ein Programm ab.

Viele Musiker kennen solche Auftrittsängste, eine wachsende Verzweiflung und das Gefühl der Erniedrigung. "Fast die Hälfte aller Orchestermusiker in Deutschland fürchtet sich vor dem Auftritt", schätzt Helmut Möller, Arzt und Leiter des kürzlich gegründeten Kurt-Singer-Instituts für Musikergesundheit in Berlin, das von der Hochschule für Musik "Hanns Eisler" und der Universität der Künste getragen wird. Bei etwa jedem Zehnten der gut 10.000 deutschen Orchestermusiker wachsen sich die Ängste sogar zur Bedrohung für die Karriere aus.

Doch in der elitären Musik-Welt wird über das folgenschwere Phänomen der Mantel des Schweigens gelegt. "Auftrittsängste sind das große Tabu in den Konzertsälen", weiß Möller. Seine Sprechstunden sind auf Monate ausgebucht - von lauter sensiblen Spitzenkönnern, die nicht mehr weiter wissen.

Entseelte Rivalitätskultur

Die meisten, die Möllers Rat suchen, haben bereits eine peinigende Odyssee bei Internisten und Orthopäden hinter sich. Der andauernde psychische Ausnahmezustand führt zu somatischen Beschwerden. Doch in der Regel sprechen die Pianisten mit "Musikerkrämpfen", bei denen die Finger am Klavier streiken, oder die Geiger mit Gelenkentzündungen erst bei Möller von ihren Ängsten. Musiker stünden unter einem Leistungsdruck wie Spitzensportler, betont Möller: "Sie sind Perfektionisten, und ein falscher Ton ist eben nicht mehr zu korrigieren."

Neben der uralten Lüge vom Geniekult, vor dem Musiker einknicken, erzeugt der Konkurrenzdruck Versagensängste. "Auf eine Stelle im Orchester bewerben sich oft bis zu 1000 Musiker", berichtet Gerhard Mantel, Professor an der Frankfurter Musikhochschule.

Mit existentiellen Sorgen auf den Schultern aber klingt keine Romanze gefühlvoll und kein Scherzo molto vivace.

Der Cellist Mantel plädiert in seinem neuen Buch schon im Titel für den "Mut zum Lampenfieber". Darunter hätten auch berühmte Musiker wie Pablo Casals, Arthur Rubinstein, Glenn Gould oder Dietrich Fischer-Dieskau gelitten. Der Künstler müsse mit Gelassenheit gegen seine Blockaden anspielen, sonst wachse sich die Angst zur Panik aus.

Auf der Suche nach der Leichtigkeit probieren Musiker vieles aus: Tai Chi in der Garderobe und Beta-Blocker vor dem Auftritt. Doch vom Medikamenten-Doping, unter dem die musikalische Potenz leidet, darf kein Kollege etwas wissen. In der Ego-Welt der Tonkünstler verzeiht der Pultnachbar keine Schwächen. Wer nicht funktioniert, der gefährdet das Finale. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter spricht von einer "entseelten Rivalitätskultur". Sein Urteil: Im exklusiven Musikbetrieb regiert eine "Kultur der Unbarmherzigkeit".

"Musik ist Kopf, Herz und Hand"

Alledem soll künftig früher und intensiv begegnet werden, fordern Fachleute. Es sei an der Zeit für ein radikales Umdenken in der Ausbildung junger Musiker, sagt Gerald Mertens, Geschäftsführer der Deutschen Orchestervereinigung, die 9000 Orchestermusiker vertritt. Nicht mehr nur Tasten-Anschlag und Bogentechnik sollen auf den Lehrplänen stehen, sondern auch Entspannungsmethoden wie etwa die Feldenkraistechnik und Mentales Training.

"Die dogmatische Überbetonung der immer gleichen Bewegungsabläufe am Instrument reicht nicht aus, um Musiker auf die Klippen in ihrer Karriere vorzubereiten", findet auch der Arzt und Geiger Horst Hildebrandt von der Musikhochschule Winterthur/Zürich: "Die empfindlichen Einzelkämpfer müssen auf die Konfrontation mit dem weihevoll schweigenden Publikum vorbereitet werden, bevor die Karriere vergeigt ist."

"Musik ist Kopf, Herz und Hand", erklärt Mertens und wünscht sich auch an anderen Musikhochschulen und Akademien Einrichtungen für die Musiker-Gesundheit: "Die Prävention von Aufführungsängsten muss rasch ihren Platz finden." Vorbild könnte hier das Kurt-Singer-Institut sein, an dem sich neben Psychologen auch Entspannungslehrer um die Musik-Studenten kümmern.

Verseuchter Boden

Der Kampf gegen Lampenfieber und Versagensängste könnte freilich schon an einem scheitern - für zusätzliche Professorenstellen und Mitarbeiter ist kein Geld da. In Berlin arbeiten Helmut Möller und die Lehrbeauftragten auf Honorarbasis, an den meisten anderen Musikhochschulen ist die personelle Ausstattung schon jetzt angespannt. Die Hochschätzung der klassischen Musikkultur beim deutschen Bildungsbürgertum spiegelt sich nicht in den kargen Übungszimmern der Akademien wieder.

Pionier Möller sieht derweil ein zweites Hindernis: das Guru-Gehabe vieler Professoren. "Große Solisten halten sich für Götter." Allein der Meister wisse, was für den Schüler das Beste sei. Diese romantische Vorstellung produziere zwar technische Spitzenkönner, aber eben auch viele mit psychischen und körperlichen Defekten beladene Musiker. Im schlimmsten Fall: Abbrecher und soziale Härtefälle.

Georg Schuller packt mittlerweile seine Geige auch zu Hause nicht mehr aus: "Musik ist für mich verseuchter Boden."

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