Süddeutsche Zeitung

Mint-Programme für Frauen:Schluss mit den Stereotypen

Zu wenige junge Frauen entscheiden sich für ein Studium oder eine Ausbildung in den Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (Mint). Wie verschiedene Initativen versuchen, das zu ändern.

Von Lara Voelter

Aufwachen durch das Piepen des Handyweckers, während des Frühstücks kurz die Nachrichten-App checken und anschließend mit dem Auto oder den "Öffis" ins Büro fahren. Allein beim allmorgendlichen Start in den Tag hat es fast jeder mit Themen aus dem Mint-Bereich zu tun. Und immer mehr junge Menschen entscheiden sich für ein Mint-Fach - vor allem in Deutschland: 40 Prozent der Studienanfänger sind es hierzulande, heißt es im Bericht "Bildung auf einen Blick 2019" der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD). In keinem der anderen 35 OECD-Länder gibt es mehr; der Durchschnitt in anderen OECD-Ländern liegt bei 26 Prozent. Frauen sind jedoch als Erstsemester dieser Fächer in der Minderzahl: 127 428 Studienanfänger und 65 023 Studienanfängerinnen an deutschen Hochschulen verzeichnet das Portal Statista für das Studienjahr 2019 / 2020. Im Bereich Ausbildung ist der Frauenanteil noch geringer: Laut dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) waren im Jahr 2019 elf Prozent der Azubis weiblich.

Der Bund, die einzelnen Bundesländer, Universitäten und Hochschulen sowie Vereine und Stiftungen versuchen mit zahlreichen Förderprogrammen, das Interesse von Kindern und Jugendlichen an Mint-Fächern zu wecken und die Kompetenzen von Mädchen und jungen Frauen zu stärken. "Komm, mach Mint" ist die einzige bundesweite Netzwerk-Initiative. Sie wurde bereits im Jahr 2008 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) ins Leben gerufen. Ziel des Pakts zwischen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien, Verbänden, Sozialpartnern und öffentlichen Institutionen ist es, das Bild von Mint-Berufen in der Gesellschaft zu verändern und die Chancen von Frauen in diesen Berufsfeldern aufzuzeigen. Die Initiative bietet deutschlandweit Anregungen zu Aktivitäten für Schülerinnen, Studentinnen und Frauen, die bereits im Mint-Bereich tätig sind, sowie Informationen zu weiteren Programmen.

Beispiele hierfür sind "Cyber-Mentor", Deutschlands größtes Online-Mentoring-Programm für Mint-interessierte Mädchen oder "Mint:pink", ein Projekt für Mittelstufenschülerinnen aus der Metropolregion Hamburg, bei dem sie kennenlernen, wo und wie Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik in der Praxis angewandt werden.

Einige Programme laden Schülerinnen zu Experimenten und Mint-Speed-Datings ein

Mädchen erlangen in der Schule die gleichen technischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse wie Jungen. Doch warum entscheiden sich nur so wenige von ihnen für ein Mint-Studium oder eine Mint-Ausbildung? "Frauen haben in der Regel seit ihrer Kindheit viel weniger Berührungspunkte mit Mint-Themen als Männer. Das ist strukturell noch immer so in der Gesellschaft verankert", erklärt Susanne Peter. Sie ist Soziologin und leitet das Programm "Mentoring Mint" an der Hochschule Bremen, das seit 2016 besteht.

Pinkfarbene Einhörner oder Puppenhäuser für Mädchen - ferngesteuerte Autos oder Computerspiele für Jungen. Was klischeehaft anmutet, ist in vielen Familien nach wie vor Realität: Das vermeintlich Weibliche und das angeblich Männliche sind häufig klar festgelegt; diese Geschlechterstereotypen werden auch vom Umfeld widergespiegelt: Soziales gleich weiblich, Technik gleich männlich.

Von einem generell fehlenden Interesse der Mädchen an Mint-Themen könne aber nicht die Rede sein, stellt Peter fest. Studien wie etwa die internationale Bildungsvergleichsstudie "TIMMS 2015" - Trends in International Mathematics and Science Study - seien zu dem Ergebnis gekommen, dass Mädchen und Jungen bis ins Grundschulalter noch gleich viel Interesse an naturwissenschaftlichen Themen und Technik zeigen würden. "Erst in der Pubertät, wenn man sich verstärkt mit den verschiedenen Geschlechterrollen identifiziert, sinkt bei Mädchen tendenziell auch das Interesse an diesen Fächern", erklärt Peter. Mädchen bräuchten mehr weibliche Vorbilder, die Mint-Studiengänge absolvieren und in Mint-Berufen arbeiten.

Mentoring Mint umfasst mit "Make Mint" ein Programm für Studentinnen und mit "Meet Mint" ein Programm für Schülerinnen ab der siebten Klasse, die eine Affinität zu technischen und naturwissenschaftlichen Fächern haben. Bereits 300 Schülerinnen haben Peter zufolge daran teilgenommen; fast alle Schulen in Bremen seien in das Programm eingebunden. Sie erhalten die Möglichkeit, beispielsweise während mehrmals im Jahr stattfindender Campustouren, dem Besuch einer Mint-Akademie oder der Teilnahme an einem Mint-Speeddating mit Studentinnen Einblicke in die naturwissenschaftlich-technischen Studiengänge zu erhalten und sich untereinander zu vernetzen. "Es entlastet die Schülerinnen enorm zu merken, dass sie nicht die Einzigen sind, die sich für Mint-Themen interessieren, wenn da ein Raum voll mit Mädchen ist, die alle so ticken, wie man selbst", sagt die Leiterin der Initiative. Zudem werden Workshops für Eltern und ihre Töchter organisiert, bei denen Stereotype und tradierte Rollenbilder im Hinblick auf den Berufsalltag reflektiert und dann nicht selten verworfen werden. Häufig seien es die Eltern, die ihren Töchtern von einem Mint-Studium abrieten oder zumindest Zweifel äußerten, berichtet die Soziologin. "Weiblichkeit in Kombination mit Technik oder Naturwissenschaften passt für viele Eltern erst mal nicht zusammen. Sie sind dann sehr dankbar für diese Workshops, in denen auch Studentinnen von ihren Erfahrungen berichten."

Ihre Scheu vor Technik bauen junge Frauen eher ab, wenn sie unter ihresgleichen lernen

Das Mentoring-Programm "Make Mint" stellt Studienanfängerinnen Mentorinnen zur Seite - Frauen, die schon in einem höheren Semester studieren. Letztere werden in sozialen und kommunikativen Kompetenzen geschult und lernen unter anderem, wie sich die Geschlechterzugehörigkeit im Studienalltag auswirken kann und welche Machtmechanismen hierbei eine Rolle spielen. Dieses Wissen geben die Mentorinnen an die jüngeren Studentinnen weiter. Seit Beginn der Corona-Krise finden die regelmäßigen Vernetzungstreffen, bei denen sich Mentorinnen und Mentees austauschen, virtuell statt.

Whatsapp, Instagram oder Youtube - obwohl Mädchen und junge Frauen digitale Angebote ebenso häufig wie Jungen und junge Männer nutzen, sind es vorwiegend männliche IT-Fachkräfte, die sich um Konzeption und Programmierung in diesem Bereich kümmern. Da viele Nutzer Frauen sind, wäre es sinnvoll, sie auch stärker in die Entwicklung von digitalen Programmen einzubinden. An dieser Stelle setzt die Hochschule Esslingen mit ihrem Modellprojekt "Girls' Digital Camps" an. Hierbei dreht sich alles um das Thema Digitalisierung - mit den Schwerpunkten Programmierung und IT-Anwendung. Schülerinnen der sechsten bis zehnten Klasse lernen in unterschiedlichen Kursen, die während der Schulzeit oder in den Ferien stattfinden, auf spielerische Art, beispielsweise Kugelroboter oder Onlinespiele zu programmieren oder befassen sich in Form von virtuellen Schnitzeljagden mit Augmented Reality. Damit wird Jugendlichen die Möglichkeit gegeben, sich schon früh mit der anwendungsorientierten Informatik vertraut zu machen.

Gabriele Gühring, Professorin für Informatik und stellvertretende Gleichstellungsbeauftragte an der Hochschule Esslingen, leitet gemeinsam mit ihrem Kollegen Jürgen Koch das Projekt, das es seit 2018 gibt. Sie hat Ähnliches beobachtet wie Susanne Peter: "Wenn in manchen Kursen keine oder nur sehr wenige Mädchen sind, dann wollen sie diese häufig nicht besuchen, weil sie das Gefühl haben, dort keine Freundschaften und keine Ansprechpartner zu haben." Deshalb hält Gühring es für sehr sinnvoll, wenn insbesondere Schülerinnen der Mittelstufe in Informatik, aber auch in Technik unter sich lernen können und Tutorinnen als weibliche Vorbilder haben. "Uns ist außerdem wichtig zu vermitteln, dass Informatik nicht bedeutet, einfach stumpf vor einem Rechner zu sitzen und etwas einzugeben, sondern dass sie viel mit Kreativität und Teamgeist zu tun hat", betont die Gleichstellungsbeauftragte. Sie findet, Informatik solle bundesweit von der weiterführenden Schule an Pflichtfach sein, sodass Mädchen früh mit Mint-Themen in Kontakt kommen. Bisher ist dies allerdings erst in wenigen Bundesländern der Fall.

Die "Girls' Digital Camps" finden auch an anderen baden-württembergischen Standorten wie etwa Offenburg und Heidelberg statt. Das Projekt wird in Kooperation mit Gymnasien praktiziert. Es ermöglicht in offenen Kursen, aber auch Schülerinnen aller Schularten, Programmierfähigkeiten zu erlangen. "Wir arbeiten stark daran, unser Angebot auch in Realschulen, Werkrealschulen oder Gemeinschaftsschulen bekannt zu machen", verrät Informatikprofessorin Gühring. Das Angebot haben bereits an die 200 Schülerinnen wahrgenommen, und es kommt offenbar gut an: "Viele ehemalige Teilnehmerinnen fragen immer wieder nach neuen Kursen", berichtet Gühring.

Chiara Jurović ist eine von ihnen. Die Zehntklässlerin des Wirtemberg-Gymnasiums in Untertürkheim hat vor zwei Jahren zum ersten Mal am "Girls' Digital Camp" der Hochschule Esslingen teilgenommen und seitdem immer wieder Kurse belegt. "Es war total interessant zu erfahren, wie viele Programmiersprachen es gibt, und wo wir es im Alltag überall mit Informatik zu tun haben. Das denkt man erst überhaupt nicht", erzählt die 15-Jährige - und dabei schwingt in ihrer Stimme Begeisterung mit. Für Chiara Jurović steht schon jetzt fest: Sie möchte später Informatikerin werden.

Detaillierte Informationen zu den Programmen: www.komm-mach-mint.de,www.hs-bremen.de/ internet/de/hsb/struktur/gleichstellungsstelle/ mentoringmint, www.hs-esslingen.de/netzwerke/ schuelerinnen-und-schueler/girls-digital-camps, www.cybermentor.de, www.mintpink.de

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Quelle:
SZ vom 05.03.2021
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