Süddeutsche Zeitung

Mint-Fächer:Selber machen

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Die globale Initiative "Technovation" ermutigt Mädchen, eigenständig Apps zu entwickeln und ihr Interesse für IT-Berufe zu bestärken. In Hamburg haben die ersten Schulen mitgemacht - mit erstaunlichen Ergebnissen.

Von Miriam Hoffmeyer

Wenn Cennet und ihre Freundinnen durch Hamburg-Wilhelmsburg zur Schule laufen, bekommen sie reichlich Müll zu sehen: kaputte Sofas, leere Trinkkartons, Altglas, Klamotten, einzelne Schuhe. Deshalb hatten die 13-jährigen Mädchen auch gleich eine Idee, als sie die erste Aufgabe des internationalen Programms "Technovation" lösen sollten: ein Problem im eigenen Viertel zu identifizieren. "Wir haben nachgedacht, was helfen könnte, unseren Schulhof und den ganzen Stadtteil sauber zu halten", sagt Cennet, "und da sind wir darauf gekommen, Sachen wieder zu verwenden. Zum Beispiel kann man aus einer alten Flasche eine Vase machen oder aus einem Karton ein Puppenhaus."

Aus der Idee entstand die App "UpCycle", die das Mädchen-Team im ersten Halbjahr 2018 entwickelte, unterstützt von ihrem Lehrer Moritz Lund und zwei Mentoren des Softwareherstellers Adobe, der in Hamburg einen Standort hat. "Unsere App ist eine Art Bastelbuch mit ungewöhnlichem Bastelmaterial", sagt Cennet. Neben "UpCycle" programmierte das Team der Stadtteilschule Wilhelmsburg auch eine App, mit der Opfer häuslicher Gewalt Hilfsangebote finden können.

Das Technovation-Programm der amerikanischen Non-Profit-Organisation "Iridescent" hat zum Ziel, weltweit mehr Mädchen für Informatik zu begeistern. Seit 2010 nahmen mehr als 23 000 Mädchen aus rund hundert Ländern daran teil. In Deutschland, wo das Programm Anfang dieses Jahres mit 50 Hamburger Schülerinnen zwischen zehn und 18 Jahren startete, wird es von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) betreut.

"Die Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien bestimmen wesentlich darüber, wie erfolgreich junge Menschen später im Beruf sein werden und welche Chancen auf Teilhabe sie haben werden", sagt DKJS-Geschäftsführer Frank Hinte. Da immer noch viel weniger Frauen IT-Berufe ergreifen als Männer, sei es wichtig, Mädchen besonders zu fördern.

Das findet auch Moritz Lund, der an der Stadtteilschule Wilhelmsburg Naturwissenschaften unterrichtet. Viele Jungen an seiner Schule hätten sich darüber beschwert, dass sie nicht mitmachen dürften, erzählt er: "Tatsächlich würden die so ein Angebot auch brauchen. Trotzdem ist ein Kurs für Mädchen besonders nötig, weil es gerade in diesem Stadtteil auch darum geht, Rollenbilder zu verändern."

Die Siebtklässlerinnen Cennet, Khadijah, Sila, Hewan und Belfin lernten nicht nur einfaches Programmieren, sondern auch, was zu einer Marktanalyse gehört, welche Geschäftsmodelle es gibt und wie man ein Pitchvideo dreht. Das Technovation-Curriculum sieht für all das nur zwölf Wochen vor, viele Inhalte sollen sich die Teilnehmerinnen selbst erarbeiten, gute Englischkenntnisse sind Voraussetzung. Um seine Schülerinnen nicht zu überfordern, verfasste Lund zusätzlich zum internationalen ein eigenes Curriculum.

Bildungsgerechtigkeit ist dem Lehrer ein Herzensanliegen, er will sich nicht damit abfinden, dass Schulerfolg in Deutschland so stark von der Herkunft abhängt. "Sprachliche Hemmschwellen und häusliche Unterstützung" spielten im Mint-Bereich keine so große Rolle wie in anderen Fächern, meint er: "Es zählen mehr das individuelle Talent und die Motivation."

Die Teams programmieren mit dem "MIT App Inventor", einem leicht zu lernenden Entwicklungstool, bei dem schon angelegte Befehle in der richtigen Reihenfolge zusammengesetzt werden müssen. In Hamburg entstanden insgesamt zwölf Apps, unter anderem zur Vermeidung von Lebensmittelverschwendung, Meldung von Graffiti oder Sammlung von Öffnungszeiten kleiner Geschäfte und Kioske.

Besonders erfolgversprechend scheint die App "DriveTogether" zu sein, die vier Schülerinnen der Ida-Ehre-Schule in Harvestehude entwickelten. Das Team befragte Bewohner, was sie an ihrem Stadtteil stört. "Viele haben gesagt, dass es zu viele Autos gibt und dass es auf den Straßen zu laut ist", sagt die 14 Jahre alte Hannah, "andere haben sich mehr Carsharing gewünscht. Diese Dinge haben wir mit der App zusammengebracht." Mit "DriveTogether" könne man nach Events in der Umgebung suchen und Autobesitzer finden, die zum selben Ziel wollten und bereit seien, jemanden mitzunehmen. "Wenn man zusammen fährt, kann man auch neue Leute kennenlernen", sagt Hannah.

Die technische Ausstattung der Hamburger Schulen zeigte sich den Anforderungen nicht immer gewachsen. In der Stadtteilschule Wilhelmsburg brach immer wieder die Internetverbindung zusammen, das Team der Ida-Ehre-Schule musste sogar umziehen. "Nachdem hier technisch nichts mehr geklappt hatte, sind wir jede Woche zu Adobe gefahren und haben dort an der App weitergearbeitet", sagt Lehrerin Diana Niemann.

Das ehrgeizige Ziel der Schülerinnen ist es, die Apps bis zur Marktreife zu bringen

Organisationen wie Lobbycontrol kritisieren, dass Schulen wegen ihrer schlechten Ausstattung geradezu auf die Förderung privater Unternehmen angewiesen sind, die dadurch ihr Image verbessern oder sogar direkt Werbung für ihre Produkte betreiben. Dagegen betont DKJS-Geschäftsführer Frank Hinte, dass die Stiftung bei Kooperationen mit der Wirtschaft sehr genau hinsehe: "Für uns ist die Kernfrage, ob das Unternehmen wirklich ein gesellschaftliches Problem lösen will oder bloße Marketing-Interessen verfolgt." Adobe-Software werde bei den Technovation-Projekten nicht verwendet.

Auch Diana Niemann sieht kein Problem in der Kooperation: "Wir arbeiten auch sonst viel mit Unternehmen zusammen, um unsere Schüler auf das Berufsleben vorzubereiten. Für die Mädchen war es toll zu sehen, wie der Alltag in so einem Unternehmen funktioniert."

Niemanns Schülerinnen Leyla und Nioba, die vorher keinerlei Erfahrungen mit Programmieren gemacht hatten, können sich jetzt vorstellen, einen IT-Beruf zu ergreifen. "Ich fand Programmieren sehr cool, und es ist interessant zu sehen, was man damit alles machen kann", sagt Leyla. Die anderen beiden Mädchen taten sich mit dem reinen Programmieren schwer, hatten aber Spaß daran, das App-Design zu gestalten. Das Team arbeitet jetzt weiter an seinem Prototyp, genauso wie das Team der Stadtteilschule Wilhelmsburg: Das ehrgeizige Ziel ist, die Apps bis zur Marktreife zu bringen. 2019 ist dafür ein weiterer Zwölf-Wochen-Arbeitsblock vorgesehen, danach sollen die Apps beim internationalen Technovation-Wettbewerb eingereicht werden, den in diesem Jahr ein Team aus Indien gewonnen hat.

Die DKJS will Technovation 2019 auf München ausweiten, wo Adobe ebenfalls einen Standort hat. Wenn die Stiftung weitere Unternehmenspartner finde, könne es auch anderswo angeboten werden, sagt Hinte: "Das Programm kann in jeder Stadt umgesetzt werden, wo Schulen dafür offen sind und wo genügend Mitarbeiter von Technologie-Unternehmen dazu bereit sind, ihr Know-how zu teilen."

Kontakt: www.dkjs.de/technovation

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Quelle:
SZ vom 08.12.2018
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