Migration in Deutschland:Flüchtlinge schaffen Jobs

Flüchtlingsunterkunft in Hamm

In diesem Jahr kommen voraussichtlich 800 000 Flüchtlinge nach Deutschland - und schaffen so auch neue Jobs.

(Foto: dpa)

Bis zu 800 000 Flüchtlinge werden in diesem Jahr in Deutschland erwartet. Das schafft Arbeitsplätze - für Polizisten, Entscheider, Lehrer und Therapeuten.

Von Miriam Hoffmeyer

Die Entscheider

Ein Entscheider beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist derzeit rechnerisch für etwa 430 Schicksale zuständig. Das Amt kommt mit der Bearbeitung von Asylanträgen kaum hinterher. Dabei wurden 350 der 560 Entscheider, die im Juli beim BAMF tätig waren, erst im laufenden Jahr eingestellt. Bis Jahresende sollen weitere tausend Beamte hinzukommen. Die Büros der Entscheider sind über ganz Deutschland verteilt, das BAMF wird bald mehr als 40 Außenstellen haben. In manchen Regionen könnte es schwierig werden, geeignete Bewerber zu finden, meint BAMF-Sprecherin Christiane Germann. "Aber bisher konnten wir alle Stellen besetzen, das ist ein spannender Job."

Das Amt wirbt vor allem an den Verwaltungshochschulen des Bundes und der Länder, versucht aber auch, Mitarbeiter anderer Behörden zum Wechsel zu bewegen. Als Beamte des gehobenen Dienstes haben Entscheider in der Regel ein dreijähriges Verwaltungsstudium absolviert. Es gibt auch Quereinsteiger, zum Beispiel Juristen mit erstem Staatsexamen. Zu den Anforderungen, die in den aktuellen Stellenanzeigen des BAMF genannt werden, gehören Kommunikations- und Konfliktfähigkeit sowie "ein hohes Verantwortungsbewusstsein".

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge

Ein Entscheider in Bingen am Rhein spricht mit einem Asylbewerber aus Serbien.

(Foto: dpa)

Der Alltag der Entscheider besteht in erster Linie aus Anhörungen der Asylbewerber. Das dauert manchmal eine halbe Stunde, im Extremfall einen ganzen Tag. Gelegentlich recherchieren die Entscheider noch bestimmte Punkte der Geschichte, indem sie beispielsweise bei der deutschen Botschaft oder einer anderen Stelle im Herkunftsland nachfragen. Dann bewilligen sie den Antrag oder lehnen ihn ab. Neben Fachkenntnissen im Asyl- und Ausländerrecht brauchen die Entscheider vor allem Wissen über die aktuelle Situation in den Herkunftsländern. Vor ihrer ersten Anhörung werden neu eingestellte Entscheider etwa drei Monate lang im Qualifizierungszentrum des BAMF fortgebildet, unter anderem in Länderkunde, Befragungstechniken und zu interkulturellen Themen. Besondere Schulungen gibt es für Entscheider, die unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Folteropfer oder geschlechtsspezifisch Verfolgte befragen.

Damit die Beamten mit der psychischen Belastung zurechtkommen, die der Beruf mit sich bringt, wird ihnen Supervision durch externe Psychologen angeboten. "Die Supervision bietet einen besonderen Raum des Nachdenkens, des Verstehens und der Entlastung", sagt Germann.

Das BAMF stellt derzeit auch viele Bürosachbearbeiter im mittleren Dienst ein, die den Entscheidern zuarbeiten: Sie nehmen Asylanträge an, überprüfen Personalien, verschicken die Einladungen zu Anhörungen und organisieren Dolmetscher. Das Büropersonal wird ebenfalls für den Umgang mit den Asylbewerbern im Qualifizierungszentrum geschult.

Auch in den kommunalen Verwaltungen werden wegen der steigenden Flüchtlingszahlen derzeit mehr Stellen besetzt. So rechnet beispielsweise Stuttgart damit, bis Ende des Jahres etwa 5400 Menschen unterbringen zu müssen. Deshalb beschloss der Gemeinderat Ende Juli, 26 Vollzeitkräfte außerhalb des Stellenplans unbefristet einzustellen. Die meisten neuen Stellen werden im Sozialamt und in der Ausländerbehörde geschaffen, die übrigen in der Schulverwaltung, beim Jugendamt und im Amt für Liegenschaften und Wohnen. Nach Angaben des Deutschen Städtetags stocken vor allem Großstädte zurzeit ihr Verwaltungspersonal auf.

Die Polizisten

Flüchtlinge im Hauptbahnhof in Frankfurt

Ein Polizist am Hauptbahnhof in Frankfurt am Main spricht mit syrischen Flüchtlingen.

(Foto: dpa)

Bundespolizisten sind meist die ersten Deutschen, mit denen Flüchtlinge nach Überschreiten der Grenze in Kontakt kommen. Sie erfassen die Personalien der Ankömmlinge, nehmen ihre Fingerabdrücke und händigen ihnen dann Fahrkarten zu einer Landeserstaufnahmestelle aus. Allerdings sind die Bundespolizisten laut Gewerkschaft der Polizei (GdP) seit Monaten so überlastet, dass sie ihre Aufgaben an der bayerisch-österreichischen Grenze nicht mehr erfüllen können. Dort endet die sogenannte "Balkanroute", über die viele Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und aus Afrika Deutschland erreichen. "Wir schätzen, dass seit Jahresanfang etwa 45 000 unerlaubt eingereiste Personen nicht mehr erkennungsdienstlich behandelt wurden", sagte der stellvertretende GdP-Bundesvorsitzende Jörg Radek im Juli.

Wegen der gestiegenen Flüchtlingszahlen stellt die Bundespolizei in diesem September 50 Prozent mehr Auszubildende ein als im Jahr zuvor. Von den insgesamt 1500 Polizeianwärtern werden vier Fünftel im mittleren, die übrigen im gehobenen Dienst eingestellt. Auch die Bewerberzahlen sind gestiegen, jedoch nicht so stark wie die Zahl der Stellen. Deshalb konkurrierten zuletzt nur noch neun statt zwölf Bewerber um einen Ausbildungsplatz im mittleren Dienst. "Durch die erhöhten Einstellungen bestehen generell bessere Chancen für einen Berufseinstieg bei der Bundespolizei", erklärt deren Sprecher Frank Borchert.

Der Umgang mit Asylbewerbern spielt in der Aus- und Fortbildung der Bundespolizisten naturgemäß eine große Rolle. Die Anwärter beschäftigen sich nicht nur mit rechtlichen Aspekten, sondern auch mit den politischen Verhältnissen und der Lebenssituation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge. In Rollenspielen sollen sie soziale Kompetenz und Konfliktvermeidung einüben.

Die Sozialarbeiter

Sachspenden in Mainz an Flüchtlinge übergeben

Eine Sozialarbeiterin in Mainz verteilt gespendete Spielsachen.

(Foto: dpa)

"Einer muss zum Arzt, einer hat Streit mit seinem Nachbarn, ein Kind muss zur Schule angemeldet werden, die Dusche ist defekt - ich bin Ansprechpartner für alles." Bastian Gasch ist Sozialarbeiter in einer Asylunterkunft im schwäbischen Waiblingen. Er hilft den mehr als 140 Bewohnern, Formulare auszufüllen, dolmetscht Behördenpost und erklärt den Neuankömmlingen, wo sie Ämter und Geschäfte finden. Dazu braucht er viel Englisch, ein bisschen Französisch und eine kreative Gestik.

Besonders wichtig ist es Gasch, dass die Asylbewerber eine Beschäftigung finden: Er organisierte ehrenamtliche Jobpaten und bemüht sich um Praktikumsplätze. "Ich versuche, mit jedem Einzelnen eine langfristige Perspektive zu entwickeln, den Leuten trotz der Ungewissheit Hoffnung zu geben", sagt er. "Das ist der anstrengendste Teil der Arbeit, aber auch der schönste."

Nur ein kleiner Teil der mehr als 500 000 Sozialarbeiter in Deutschland betreut Flüchtlinge. Genaue Zahlen gibt es nicht, schon weil einige dieser Sozialarbeiter bei Kommunen angestellt sind und die übrigen bei vielen unterschiedlichen freien Trägern. Michael Leinenbach, Vorsitzender des Deutschen Berufsverbands für Soziale Arbeit, hat festgestellt: "Das Betreuungsverhältnis verschlechtert sich ständig." Es gebe jedoch sehr große regionale Unterschiede. "In einigen Bundesländern wie Bayern stehen ausreichende Mittel zur Verfügung. Die Versorgung in Ballungsräumen ist dort recht gut, auf dem Land fehlen aber schon Fachkräfte."

Ärmere Gemeinden könnten schon wegen der Schuldenbremse nur begrenzte Mittel für die Betreuung von Flüchtlingen durch Sozialarbeiter einsetzen, sagt Leinenbach. Deshalb werde dort versucht, einen Großteil der Aufgaben auf ehrenamtliche Helfer zu übertragen. "Diese sind aber mittlerweile in Teilen überfordert."

Die Deutschlehrer

Migration in Deutschland: Eine Lehrerin unterrichtet Flüchtlinge in Planegg.

Eine Lehrerin unterrichtet Flüchtlinge in Planegg.

(Foto: Stephan Rumpf)

Erst nach Anerkennung ihres Asylantrags haben Flüchtlinge Anspruch auf professionellen Deutschunterricht. Deshalb steigt die Nachfrage nach Deutschkursen mit zeitlicher Verzögerung. Schon im vergangenen Jahr begannen mehr als 142 000 Menschen einen Integrationskurs, mehr als jemals zuvor. Ende dieses Jahres dürften die Zahlen noch erheblich höher liegen.

Außerhalb der Großstädte seien gut qualifizierte, erfahrene Deutschdozenten für Integrationskurse kaum noch zu finden, sagt der Vorsitzende des Fachverbands Deutsch als Fremd- und Zweitsprache, Matthias Jung. Hauptgrund sei die schlechte Bezahlung im staatlich geförderten Sektor: "Viele Dozenten leben in prekären Verhältnissen." Weil auch viel mehr ausländische Fachkräfte und Studienbewerber Deutsch lernen möchten als früher und diese Kurse besser honoriert werden, unterrichten Lehrer, die sich an einer Hochschule für ihren Beruf qualifiziert haben, lieber in diesem Bereich.

Flüchtlingen Deutsch beizubringen sei "ein toller Job, der auch nach vielen Jahren spannend bleibt und vielleicht mehr Spaß macht, als gelangweilte deutsche Jugendliche zu unterrichten", meint Jung. Schwierig für die Dozenten sei aber die heterogene Zusammensetzung der Gruppen: "Manche Flüchtlinge sind nur ein paar Jahre zur Schule gegangen oder beherrschen die lateinische Schrift nicht. Andere haben studiert, sprechen perfekt Englisch und noch weitere Sprachen. All diese Menschen sitzen dann im Integrationskurs zusammen." Vor ihrer Anerkennung sind Flüchtlinge meist darauf angewiesen, dass ihnen ehrenamtliche Helfer etwas Deutsch beibringen. Auch das Dolmetschen bei Behörden oder Ärzten erledigen fast nur Ehrenamtliche, weil den Kommunen das Geld für Profis fehlt. Die Nachfrage nach Dolmetschern ist deshalb nach Angaben ihres Berufsverbands BDÜE kaum gestiegen.

Die Therapeuten

Therapeutische Wohngemeinschaft für junge Flüchtlinge in München, 2014

Stundenplan in einer therapeutischen Wohngemeinschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in München.

(Foto: Florian Peljak)

Viele Flüchtlinge sind traumatisiert und brauchen therapeutische Hilfe. Diesen Bedarf können die 26 psychosozialen Zentren in Deutschland, die sich um Opfer von Krieg, Folter oder Vergewaltigung kümmern, bei Weitem nicht decken. Im Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin werden derzeit vor allem Syrer, Iraker und Kurden behandelt. "Die Zahl der Anfragen steigt ständig, die Probleme der Menschen sind dringlicher geworden", sagt die promovierte Psychologin Maria Böttche. Sie leitet die Forschungsabteilung des Zentrums, das pro Jahr etwa 400 Menschen behandelt. Die meisten machen eine Gruppentherapie, bei den Sitzungen sind Dolmetscher dabei. Meist seien etwa 15 Sitzungen erforderlich, so Böttche. "Viele Folteropfer leiden unter Flashbacks. Es geht darum, sich bewusst mit dem Trauma auseinanderzusetzen: die Angst noch einmal zu fühlen, um zu erleben, wie sie reduziert wird."

Neben der Psychotherapie bieten die Zentren umfangreiche soziale Hilfen, die ebenso wie die Dolmetscherkosten aus Spenden finanziert werden. Außerhalb der Zentren ist es für Flüchtlinge schon wegen der Sprachbarriere sehr schwer, Hilfe zu finden. Die psychotherapeutische Versorgung reicht ohnehin nicht aus; außerhalb der Ballungszentren müssen auch Deutsche lange auf eine Therapie warten.

Die Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie sieht 140 Stunden Weiterbildung zum Traumatherapeuten vor. Voraussetzung dafür ist eine fünfjährige klinische Tätigkeit im Traumabereich. Auch Maria Böttche will die Weiterbildung absolvieren, sobald sie ihre Ausbildung zur Verhaltenstherapeutin abgeschlossen hat. Der Austausch mit ihrem Team helfe ihr, die Belastung durch die Erzählungen der Flüchtlinge auszuhalten, meint sie. "In diesem Beruf braucht man eine gewisse Distanz - aber gleichzeitig auch eine gewisse Hingabe."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: