Der moderne Mensch wäre am liebsten Individualist, kleiner Revoluzzer und in seinem ganzen Wesen einzigartig.

Der moderne Mitarbeiter dagegen ist Konformist, Mitläufer und in seinem ganzen Wesen unauffällig. Er hockt im grauen Anzug an grauen Schreibtischen in grauen Großraumbüros. Solange er funktioniert, interessiert sich eigentlich niemand für ihn. Sollte er einmal nicht funktionieren, erscheint er in Form einer Personalnummer auf dem Bildschirm eines Controllers. Mittels der Delete-Taste ist das Problem dann meist kurzerhand erledigt.
Dieser Tatsache ist sich der Kollege zwar bewusst. Das macht es jedoch nicht einfacher, der bitteren Realität ins Auge zu blicken. Wer will schon wahrhaben, dass er zum bloßen Erfüllungsgehilfen degradiert ist und sich der Chef nur deshalb mit ihm zum Mittagessen trifft, damit hinterher jemand den Kaffee bezahlt?
Respekt? Kündigung!
Diese grundsätzliche Menschenfeindlichkeit im deutschen Arbeitsalltag ist prinzipiell zu geißeln. Doch leider stehen nicht allzu viele - realistische - Alternativen zur Verfügung: Kündigung? In diesen Zeiten kaum zu empfehlen. Respekt einfordern und mit dem Chef streiten? Könnte wiederum zu Ersterer führen.
Was bleibt, ist die Kraft der Imagination: ein Mal auf die dunkle Seite der Macht wechseln! Ein Mal selbst Despot spielen! Ein Mal Chef sein - wenn auch nur in Gedanken! Sitzt das Team bei der gemeinsamen Mittagspause und beschwert sich mal wieder über die unfähigen Führungskräfte, fällt also unweigerlich der Satz: "Wenn ich hier was zu sagen hätte, ..."
Ja, wenn der Kollege was zu sagen hätte, würde er als Erstes den ungeliebten C. rausschmeißen, als Nächstes sein eigenes Gehalt erhöhen. Zum Dritten den Chef ins Großraumbüro setzen, damit der endlich merkt, was es bedeutet, keine Fensterfront für sich allein zu haben. Ist das erledigt, müssen auch A. und B. dran glauben.
Vier-Stunden-Tage, Sekretärin, Dienstwagen
Dann steht die Zusammenlegung dreier Abteilungen auf dem Programm: Was die Kollegen aus dem Stockwerk drüber treiben, fragt er sich ja ohnehin schon lang. Das könnte man doch alles viel effizienter erledigen, da muss nur mal einer richtig durchgreifen. Ist er mit seinen Gedanken so weit gekommen, lässt er den Allmachtsphantasien freien Lauf. Vier-Stunden-Tage, Sekretärin, Dienstwagen, warum nicht gleich ein Privatjet? Verdient hätte er es ja, so wie er hier schuftet. Frei nach Rio Reiser:
Jede Nacht um halb eins, wenn das Fernsehen rauscht Legt sich der Kollege auf's Bett, und malt sich aus Wie es wäre, wenn er nicht der wäre, der er ist Sondern Häuptling, Chef, Boss oder Bürofaschist Er denkt sich, was der Manager da kann, das kann er auch Er würd wichtig tun tagein tagaus Er käm viel rum, würd nach USA reisen den Vorstand mal so richtig in die Waden beißen. Das alles und noch viel mehr Würd er machen Wenn er König seiner Firma wär.