Medizinstudium:"Man verbittert und verliert seine Menschlichkeit"

Eine Umfrage offenbart, dass viele junge Mediziner ins Ausland gehen wollen - der Ärztemangel in Deutschland könnte dramatisch werden.

Nina von Hardenberg

Der Eintrag ist kurz, doch er bringt die Stimmung an deutschen Medizinfakultäten auf den Punkt: "Ich finde unser Gesundheitssystem und den Umgang mit Ärzten und Patienten sehr abschreckend. Werde nicht in Deutschland bleiben, wenn ich fertig bin mit dem Studium."

Medizinvorlesung, ddp

Medizinvorlesung in Halle-Wittenberg: Den Nachwuchs zieht es ins Ausland.

(Foto: Foto: ddp)

So schreibt ein Medizinstudent anonym in einer Onlineumfrage. Er spricht damit offenbar vielen Kommilitonen aus der Seele: Mehr als 70 Prozent der Medizinstudenten an deutschen Universitäten spielen mit dem Gedanken, das Land nach dem Ende des Studiums zu verlassen. Zu diesem Ergebnis kommt eine noch unveröffentlichte Umfrage der Universität Bochum unter 4000 Medizinstudenten in ganz Deutschland.

Dramatische Unterversorgung

Die Abteilung für Allgemeinmedizin der Medizinischen Fakultät der Universität Bochum hatte die Umfrage initiiert. Mit einem so eindeutigen Ergebnis hatte Studienleiterin Dorothea Osenberg allerdings nicht gerechnet. "Wenn nur die Hälfte der Studenten ihre Pläne wahr macht, wäre das ein Supergau", sagt sie. Die Patientenversorgung in Deutschland wäre dann ernsthaft gefährdet - eine Situation, vor der Standesvertreter schon seit längerer Zeit warnen.

In ländlichen Gebieten könnte schon bald dramatische Unterversorgung herrschen, heißt es in einer "Studie zur Altersstruktur- und Arztzahlentwicklung", die die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die Bundesärztekammer im vergangenen Herbst in Berlin vorstellten. Als Grund nannten sie das hohe Durchschnittsalter der Ärzte, das 2005 im Schnitt bei 51,1 Jahren lag.

Allein bis zum Jahr 2012 würden 41.000 Ärzte in den Ruhestand gehen. Nachwuchs sei kaum zu finden, auch, weil es immer mehr Mediziner ins Ausland zöge. 16.000 deutsche Ärzte arbeiteten 2007 außerhalb von Deutschland - ein viertel mehr als noch drei Jahre zuvor. Das beliebteste Auswanderungsziel für deutsche Ärzte ist seit Jahren die Schweiz, gefolgt von Skandinavien, England, Österreich und den USA.

Unglückliche Ärzte sind schlechte Ärzte

Der negative Trend könnte sich in Zukunft noch verstärken, wie die Bochumer Umfrage zeigt: Denn die Studenten schrecken die Arbeitsverhältnisse hierzulande zunehmend. Viele denken dabei auch an die Familienplanung: "Es kann nicht sein, dass Ärzte ihr eigenes Privatleben und Familienplanung hintanstellen müssen. Das macht auf die Dauer unglücklich, und unglückliche Ärzte sind schlechte Ärzte. Man wird verbittert und verliert seine Menschlichkeit", warnt ein anonymer Schreiber im freien Textfeld am Ende der Umfrage.

Ein anderer führt aus: Niemand könne erwarten, dass er hier bleibe, "und für einen Niedriglohn Familie und Gesundheit riskiere" und endlose Überstunden mache. Viele ärgert auch die Bürokratie. "Es kann nicht sein, dass niedergelassene Ärzte mehr damit beschäftigt sind nachzuschlagen, welche Medikamente sie verschreiben dürfen, als mit der Versorgung der Patienten". Und der enorme Stress macht den Jungmedizinern Sorge: "Was mich im Moment am meisten beschäftigt ist der Stress während des Studiums und auch in der Praxis später. Oft denke ich deshalb auch über einen Wechsel des Studienganges nach", schreibt ein Umfrage-Teilnehmer.

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"Man verbittert und verliert seine Menschlichkeit"

Stress im Studium

Die Einträge zeigen, dass die Gründe für den Frust vielfältig sind. Am häufigsten gaben die Studenten die Arbeitsbelastung an (80 Prozent). Oft wurde die geringe Bezahlung (60 Prozent) sowie der Stress im Studium und am Arbeitsplatz genannt (58 Prozent). Studienleiterin Oseberg beunruhigt zudem, dass nur wenige Studenten Hausärzte werden wollen. Nur 23 Prozent der Befragten ziehen diesen Berufsweg für sich in Erwägung. "Da muss sich etwas an der Ausbildung ändern", sagt Oseberg, die, wie sie sagt, "von ganzem Herzen Hausärztin" ist. So habe man in Bochum gute Erfahrungen mit einem Modellstudiengang gemacht, bei dem die Studenten schon ab dem ersten Semester Praktika bei niedergelassenen Ärzten machen müssen.

Der Mangel an Nachwuchs bei den Hausärzten besorgt auch Ärztepräsident Jörg-Dietrich Hoppe. Schon heute täten sich auf dem Land Versorgungslücken in der hausärztlichen Versorgung auf. "Vakante Stellen in ostdeutschen Krankenhäusern können häufig nur noch durch zugewanderte Ärzte aus Osteuropa besetzt werden." Eine immer älter werdende Gesellschaft brauche nicht weniger sondern mehr Ärzte. Hoppe äußerte am Montag zugleich Verständnis für die Auswanderungspläne der Jungmediziner: "Viele dieser jungen Leute wollen nicht mehr um den Preis ihrer eigenen Gesundheit 60- oder gar 80-Stunden-Dienste in der Woche schieben", sagte er.

Wie viele der Studenten, die in der Umfrage ihren Frust geäußert haben, am Ende tatsächlich in die Fremde gehen werden, kann Studienleiterin Oseberg nicht abschätzen. Doch sie warnt davor, die Aussagen als momentane Stimmung abzutun. "Die heutigen Studenten sind sehr flexibel, sie haben Erfahrungen im Ausland gemacht. Der Schritt ist für sie nicht mehr sehr groß", sagt sie.

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