Medizinstudenten:Kampf vor Gericht - für einen Studienplatz

Wer keinen Studienplatz in Medizin bekommt, kann versuchen, sich einzuklagen. Für Anwälte ist das ein gutes Geschäft - doch manche Studenten bereuen ihre Entscheidung später.

Hannes Vollmuth

Irgendwann nahm Kristof Immenroth einfach das Deutsche Ärzteblatt im Wartezimmer seines Vaters, blätterte ganz nach hinten zu den Kleinanzeigen und wählte die Nummer eines Anwalts. Immenroth, 19 Jahre alt, Abiturnote 1,9, wollte nicht länger warten. Nicht auf den Studienplatz im Fach Medizin: zwölf Semester Wartezeit. Sechs Jahre wären das. "Ich würde überall studieren", sagt der Hamburger, der jetzt erst einmal in Hannover wohnt und Wirtschaft studiert, vorübergehend. Seine Leistungskurse - Biologie und Physik, Kerndisziplinen der Medizin - hat Immenroth mit "sehr gut" abgeschlossen. Vergebens.

Studienbeginn

Rein in die überfüllten Hörsäle - ohne lange Wartesemester. Wer Medizin studieren will, kann versuchen, auf juristischem Weg einen Studienplatz zu erstreiten.

(Foto: dapd)

Die medizinischen Fakultäten in Deutschland erleben eine Klagewelle, die einem Tsunami gleicht. Beim Verwaltungsgericht Frankfurt gingen im vergangenen Jahr 1060 Studienplatz-Klagen für das Fach Medizin ein. Im Jahr zuvor lag die Zahl bei 410. In Berlin und Dresden das gleiche Bild. Und auch in München gab es vor wenigen Jahren nur 200 Eilanträge. Mittlerweile hat sich die Zahl vervierfacht.

Das Phänomen macht vor fast keiner der 35 Medizinfakultäten in Deutschland Halt. Während Politiker vor einem Ärztemangel warnen, türmen sich bei den Gerichten die Klagen auf einen Studienplatz. Anwälte von zwei Dutzend Kanzleien erscheinen regelmäßig vor den Gerichten, um ihren Mandanten zu einem Studienplatz zu verhelfen. Verzweifelte Eltern, die es sich leisten können, zahlen gerne hohe Summen, um für den Sohn oder die Tochter mehrere Universitäten gleichzeitig zu verklagen. Auf solche Verfahren spezialisierte Anwälte inserieren regelmäßig im Ärzteblatt.

Der Anstieg der Klagen wird verständlich, wenn man einen Blick auf die Entwicklung des Numerus clausus (NC) wirft - die größte Hürde auf dem Weg ins Studium. Wollte 2005 ein Abiturient aus Berlin den Arztberuf ergreifen, genügte ein Notenschnitt von 1,5. Fünf Jahre später musste im Zeugnis eine 1,2 stehen. Für Bewerber aus dem Saarland, Thüringen, Brandenburg und Baden-Württemberg ist selbst das zu wenig. Glänzt ihr Abiturzeugnis nicht mit einer 1,0, heißt es auch für diese Bewerber: warten, lange warten.

Zuständig für die Berechnung des NC ist die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS), die mittlerweile in die "Stiftung für Hochschulzulassung" umgewandelt wurde. Dort gingen für das Wintersemester 2010/11 insgesamt 40.387 Bewerbungen für Medizin ein. Zehn Jahre zuvor waren es noch weniger als die Hälfte. Die Zahl der Studienplätze (8629) hat sich dagegen kaum verändert. Und so müssen viele Bewerber heute zwölf Semester auf einen Platz warten. "Steigt die Wartezeit, steigt auch die Zahl der Klagen", sagt der Saarbrücker Anwalt Wolfgang Zimmerling.

Klagende Studenten sind ein lukratives Geschäft: Die Zahl der Anwälte, die davon profitieren, wächst. "Zehn davon nehme ich ernst", sagt allerdings der Kölner Jurist Christian Birnbaum, der schon seit Jahren Medizinstudenten einklagt. Manche Kollegen, berichtet Birnbaum, klagten selbst dort, wo gar keine Aussicht auf Erfolg bestehe. Jedes Verfahren kostet freilich viel Geld. Mit 1500 Euro pro verklagter Universität müsse man rechnen, sagt der Anwalt. Probiert es der Student, um seine Chancen zu vergrößern, gleich an 20 Gerichten parallel, türmen sich die Kosten zu einem hohen Berg auf. Selbst wenn der Kläger am Ende an einer Hochschule Erfolg hat, müssen auch für die restlichen Verfahren die Kosten gezahlt werden. 20.000 Euro seien da keine Seltenheit.

Papi zahlt

Für keinen anderen Berufswunsch wählen Eltern so oft die Nummer von Anwaltskanzleien wie für den des Arztes. "Hat mein Vater geregelt", berichtet etwa ein Student aus Nordrhein-Westfalen, der 2008 das Gymnasium mit einer 2,5 verlassen hat und jetzt im dritten Semester Medizin studiert.

Doch die Chancen, über den Gerichtsweg in eine Fakultät zu kommen, sind nicht zwingend gut. "Nur ein bis zwei Prozent schaffen es", sagt Astrid Irrgang, die an der Goethe-Universität in Frankfurt mit den Klagen beschäftigt ist. In Berlin, wo in diesem Jahr 550 Eilanträge gestellt wurden, konnten die Anwälte keinen einzigen Studenten unterbringen.

Längst lassen sich auch die Unis von Kanzleien vertreten: "Die Rechtsanwälte, die klagen, haben sich spezialisiert", sagt Andreas Guse, Prodekan am Klinikum Eppendorf in Hamburg. Also greife auch sein Klinikum auf Spezialisten zurück. Die Anwälte auf der Klägerseite vermuten dahinter eine Methode der Abschreckung. Verliert ein Student gegen die Kanzlei einer Uni, wird es teurer.

"Quatsch", sagt Burkhard Danz dazu, Leiter der Studienangelegenheiten an der Charité in Berlin. Die Verfahren seien so heikel, dass die Unis juristischen Beistand bitter nötig hätten. Der Uni Göttingen wurden im Jahr 2008 so gravierende Fehler nachgewiesen, dass sie auf einen Schlag 51 Studienplätze neu schaffen musste - ein Problem für eine medizinische Fakultät, an der ein Studienplatz gut 150.000 Euro kostet.

Der Angriffspunkt, den die Anwälte der Kläger wählen, ist bei jeder Uni derselbe: die Kapazitätsberechnung. Minutiös kalkulieren die Fakultäten, wie viele Studenten sie aufnehmen können. Vor Gericht wird die Berechnung dann angefochten: Ein Professor, der mehr Zeit im Labor verbringt als vertraglich vereinbart, kann der Hochschule Probleme bringen. Entdecken Anwälte Fehler in der Berechnung, müssen zusätzliche Studienplätze geschaffen werden.

Oft handelt es sich aber nur um zehn bis 15 Plätze, die unter Dutzenden Klägern ausgelost werden. Im Hase-und-Igel-Spiel des Einklagens kennen beide Seiten die Argumente der Gegner mittlerweile in- und auswendig. "Wir müssen jedes Jahr aufs Neue schauen, dass wir Plätze finden", sagt der Hamburger Anwalt Dirk Naumann zu Grünberg.

Der Spott der Professoren

Der Jurist rät seinen Mandanten deshalb, gleich gegen mehrere Unis zu klagen. Irgendwann sei dem Bewerber das Losglück schon hold. Und wer bereits im Januar klage, in dem die ersten Bewerbungsfristen auslaufen, verbessere seine Aussichten; denn in den kommenden Monaten, sagt der Anwalt, werde es richtig eng. Zu viele Kläger werden sich dann zu wenige Plätze teilen müssen. Nach dem Wegfall der Wehrpflicht und wegen der doppelten Abiturjahrgänge in mehreren Bundesländern dürfte sich die Lage zuspitzen. "Wir befürchten einen weiteren Anstieg der Klage-Zahlen", heißt es bei der Frankfurter Goethe-Universität.

Die Versicherungen haben schon vor Jahren Konsequenzen gezogen: Eine Studienplatzklage wird von kaum einer Rechtsschutzversicherung mehr bezahlt, seit die Kosten explodiert sind. Zuletzt musste die Versicherungsgesellschaft Concordia in Hannover 90 Prozent ihres Budgets im Bereich "Allgemeines Verwaltungsschutzrecht" für Studienplatzklagen bereitstellen. Bei einer Rechtschutz-Police, für die die Concordia damals 172,20 Euro verlangte, entstanden Kosten von mehr als 13000 Euro.

Wer es dann dennoch in den Hörsaal schafft, den erwarten oft argwöhnische Professoren und Kommilitonen. "Wenn man mehrere Jahre auf den Studienplatz wartet, empfindet man es als ungerecht, wenn andere sich einklagen", sagt Boris Barbarics, Mitglied der Fachschaft Medizin an der Uni Göttingen. Viele Einkläger, berichtet er, würden es nicht einmal zugeben, wenn ihr Weg ins Studium über den Gerichtssaal verlief.

Obwohl, wie die Verwaltungsrichter betonen, an einer Klage prinzipiell nichts unmoralisch sei, bleibt an vielen Studenten das Image hängen, es nur dank Papis Geldbeutel geschafft zu haben. "Man merkt schon, dass die Dozenten das nicht gerne sehen", sagt ein Student, der ungenannt bleiben möchte. Um dies zu verhindern, raten auch die Anwälte dazu, die Klage besser nicht zu erwähnen. "Außer ganz guten Freunden erzähle ich niemandem davon", sagt der 21-Jährige. 20.000 Euro hat ihn sein Studienplatz gekostet. In der ersten Vorlesung hagelte es prompt Spott vom Katheder. Ein schlechtes Gewissen habe er aber nicht. "Ich wollte einfach keine fünf Jahre warten."

Doch es gibt auch Verständnis. Kurioserweise von denen, die sich mit Händen und Füßen gegen die klagenden Studenten wehren: den Hochschulen. "Das Ganze ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen", sagt Charité-Mitarbeiter Danz. Es gebe einfach zu wenige Studienplätze. Im Deutschen Ärzteblatt stehen neben den Anzeigen der Anwälte auch zahlreiche Gesuche für Ärzte in ländlichen Gebieten. Gerade dort, so wird Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) nicht müde zu warnen, gebe es Ärztemangel.

Aber nicht jeder eingeklagte Medizinstudent ist mit seinem Erfolg glücklich. "War eine beschissene Zeit", sagt heute ein Chirurg aus Köln. Der damalige Student klagte gegen zwölf Universitäten, bis er schließlich in Marburg unterkam. Was folgte, war ein Spießrutenlauf: Die Universität holte erfolgreich zum Gegenschlag aus und klagte den Student vom Campus. Der reagierte und wechselte nach Dresden. Dort angekommen, machten ihm Kommilitonen und Dozenten das Leben schwer. "Hat mich alles ziemlich mitgenommen", sagt er heute, sieben Jahre später. Die Realität des Arztberufs habe ihn übrigens auch enttäuscht. "Diese Überstunden", stöhnt er. "Nach allem was passiert ist", sagt der Chirurg, "würde ich mich nicht mehr einklagen."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: