Süddeutsche Zeitung

Logistik-Branche:Fachkräfte dringend gesucht

Von der Planung bis zur Auslieferung: Logistik ist viel mehr als nur der Transport von Waren. In der drittgrößten deutschen Branche sind Tausende Stellen nicht besetzt - das bietet viele Chancen.

Von Miriam Hoffmeyer

Wenn die Supermarktregale voll sind, und der Verkehr läuft, fällt das niemandem auf. Logistik werde eigentlich nur wahrgenommen, wenn etwas schiefgegangen sei, meint die IT-Unternehmerin Frauke Heistermann: "Der Lkw-Stau, das gestrandete Containerschiff, die angemuffte Speditionshalle im Tatort - das sind die Logistik-Bilder, die in der Öffentlichkeit sichtbar sind."

Heistermann ist Sprecherin der Initiative "Die Wirtschaftsmacher", in der sich etwa hundert Unternehmen und Verbände zusammengeschlossen haben, um das Image der Branche zu verbessern und mehr Nachwuchs für die rund 200 Logistikberufe zu gewinnen. In ihrer Internetkampagne "Logistikhelden" werden nicht nur Beschäftigte in Warenlagern und Speditionen vorgestellt, sondern zum Beispiel auch ein Logistikplaner, eine Projektmanagerin und ein Robotik-Experte.

"Die meisten Leute denken, Logistik bedeutet einfach Transport", sagt Heistermann. Dabei umfasse der Begriff die Planung, Steuerung und Kontrolle aller Bewegungen von Gütern und Informationen durch die gesamte Lieferkette, von der Bestellung bis zur Auslieferung.

Bei deutschen Speditionen und Logistikdienstleistern arbeiten mehr als 600 000 Menschen. Wenn man alle Beschäftigten zusammenzählt, die sich in Unternehmen und Organisationen mit logistischen Aufgaben befassen, kommt man auf mehr als drei Millionen. Damit ist die Logistik der drittgrößte Wirtschaftszweig in Deutschland. Von 154 Milliarden Euro im Jahr 2000 sind die Umsätze der Branche bis 2019 auf 285 Milliarden gewachsen. Die Corona-Krise hat zwar zu einem etwa fünfprozentigen Umsatzrückgang geführt, weil die Probleme in der Automobilindustrie und im Maschinenbau sich auch auf Logistikfirmen auswirkten. Viele Speditionen mussten ihre Beschäftigten in Kurzarbeit schicken.

In der Logistik werden immer mehr Akademiker gebraucht

Der Bundesverband Spedition und Logistik (DSLV) rechnet aber mit einer schnellen Erholung. Nach wie vor würden Nachwuchskräfte auf allen Qualifikationsebenen gesucht, sagt Tatjana Kronenbürger, die beim DSLV für Aus- und Weiterbildung zuständig ist: "Bei Berufskraftfahrern und Fachkräften für Lagerlogistik ist es derzeit am schwierigsten, offene Stellen nachzubesetzen. Aber grundsätzlich werden Mitarbeiter in allen Bereichen gesucht, von Kaufleuten über Informatiker bis zu Juristen."

Mehreren Studien zufolge dürfte der Akademikeranteil in der Logistik in den nächsten zehn Jahren um 50 bis 60 Prozent steigen. Das liegt nicht nur daran, dass viele Schulabgänger heute Supply-Chain-Management, Informationslogistik oder Betriebswirtschaft mit Schwerpunkt Logistik studieren statt eine duale Ausbildung zu machen. Mittlerweile gibt es, vor allem an Fachhochschulen, mehr als hundert Logistikstudiengänge.

Die Akademisierung ist aber auch eine Folge der Digitalisierung, die die Logistik genauso stark verändern könnte wie die Industrie. Einige große Unternehmen nutzen bereits selbstfahrende Roboter für Transporte auf dem Werksgelände. Durch Trackingsysteme lässt sich die genaue Position einer Sendung jederzeit feststellen. Und spezialisierte Software macht es möglich, die Lieferketten immer weiter zu optimieren.

Die Chancen der Digitalisierung seien noch längst nicht ausgeschöpft, sagt Ulrike Grünrock-Kern von der Bundesvereinigung Logistik (BVL), einem Expertennetzwerk mit rund 11 000 Mitgliedern: "Wenn Unternehmen sich gegenseitig in ihre Daten schauen lassen, könnte zum Beispiel der Einzelhandel sehen, ob ein Zulieferer für die Joghurtproduktion Lieferschwierigkeiten hat. Alle Akteure in der Lieferkette könnten viel schneller reagieren." Die Logistikbranche brauche deshalb nicht nur Ingenieure, Informatiker und Mechatroniker, um Roboter und automatische Anlagen zu programmieren und zu warten, sondern auch Manager und Sachbearbeiter, die Datenströme interpretieren können.

Ein Logistik-Startup mit fast 100 offenen Stellen

In den letzten Jahren sind zahlreiche Logistik-Startups entstanden, die auf digitale Geschäftsmodelle setzen. 2016 wurde die Sennder GmbH gegründet, die über ihre Plattform europaweit Transportaufträge an kleinere Speditionen und selbständige Lasterfahrer vermittelt, von denen viele ihre Geschäfte vorher noch mit Stift und Papier abwickelten.

Bis heute ist das Unternehmen auf etwa 840 Mitarbeiter an sieben Standorten gewachsen, auf der Website sind aktuell fast 100 Stellen ausgeschrieben. "Wir suchen händeringend nach Talenten. Einerseits nach IT-Experten, andererseits auch nach erfahrenen Logistik-Disponenten, denn sie sprechen dieselbe Sprache wie die kleinen, oft familiengeführten Speditionen, mit denen wir zusammenarbeiten", sagt der Sennder-Mitgründer Julius Köhler.

Seit gut einem Jahr leitet Graham Major-Ex die Abteilung "Green Business" bei Sennder. Zu seinen Aufgaben gehört es, die Geschäftspartner bei der Umstellung auf moderne Kraftstoffe aus hydrierten Pflanzenölen zu unterstützen. "Diese Umstellung ist gerade für kleinere Speditionen nicht leicht", erklärt Major-Ex. "Unser System kalkuliert für sie die Treibstoffkosten, ermittelt geeignete Tankstellen auf der Route und ermöglicht den Nachweis, dass der Transport mit umweltfreundlichem Kraftstoff erledigt wurde."

Das Tätigkeitsfeld des jungen Amerikaners, der ein MBA-Programm mit Schwerpunkt Erneuerbare Energien absolviert hat, ist in der Branche noch relativ neu. Graham Major-Ex ist aber überzeugt, dass es wachsen wird: "Anders als vor fünf oder zehn Jahren sind viele Logistikunternehmen heute bereit, in Personal und Technik zu investieren, um grüner zu werden. Sie sehen das als strategischen Vorteil."

Jobs für Ungelernte verschwinden, nur Fahrer bleiben begehrt

Die Digitalisierung schafft nicht nur neue Jobs. Auf längere Sicht könnte sie viele Tätigkeiten vor allem von niedrigqualifizierten Arbeitskräften in der Logistik überflüssig machen. Laut einer Bitkom-Umfrage von 2019 rechnen 70 Prozent der Logistik-Unternehmen damit, dass die Zahl der Arbeitsplätze für Helfer aufgrund der Digitalisierung deutlich sinken wird.

Berufskraftfahrer wird das allerdings nicht betreffen, auch wenn sie als Grundqualifikation nur den Lkw-Führerschein und einen 140-stündigen Lehrgang mit Abschlussprüfung benötigen. Fahrer werden so dringend gesucht, dass auch der Auftragsrückgang in der Corona-Krise die Lücke nur verkleinert hat. Und selbst wenn irgendwann nur noch selbstfahrende Lastwagen unterwegs sein sollten, werde noch ein Mensch im Führerhaus sitzen, sagt Ulrike Grünrock-Kern von der BVL: "Solange man die Wurst nicht beamen kann, braucht man Fahrer."

Anders sieht es in der Lagerlogistik aus. Dort sind viele Stellen durch die Digitalisierung gefährdet - allerdings noch nicht in den nächsten Jahren. Weil viele unterschiedliche Produkte wechselnder Kunden die Lager durchlaufen, wäre ihre komplette Automatisierung sehr kompliziert und teuer. "Neue Technologien müssen sich in relativ kurzer Zeit amortisieren; hochkomplexe und auch kostenintensive Lösungen, wie beispielsweise Kommissionier-Roboter, sind daher nicht anzutreffen", heißt es in einer Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung über neue Anforderungen an Fachkräfte für Lagerlogistik.

Auch in hochmodernen Lagern werden die Waren deshalb noch von Menschen zusammengestellt und versandfertig gemacht. Den internen Transport übernehmen aber schon heute Roboter. Im Amazon-Logistikzentrum Mönchengladbach sind auf mehr als 30 000 gelben Regalen kleinere Waren aller Art eingelagert. Flache Transportroboter heben die Regale hoch und fahren sie zu den Kommissionierern, die die bestellten Artikel herausnehmen. Mit Sensoren erkennen die Roboter Hindernisse und am Boden angebrachte Barcodes, die ihnen Position und Ziel angeben. Amazon betreibt bundesweit 15 Logistikzentren mit insgesamt rund 16 000 Angestellten, in diesem Jahr sollen zwei weitere eröffnet werden.

Der Lagerlogistiker hat 1500 Transport-Roboter im Blick

Alexander Büscher ist in Mönchengladbach Kommissionierer und zugleich einer von zehn "Amnesty Respondern", wie Amazon den Job publikumswirksam bezeichnet: eine Art Notfallhelfer für Roboter. "Auf meinem Tablet werden alle 1500 Transport-Roboter auf meiner Etage angezeigt", erklärt er. "Das häufigste Problem ist, dass ein Artikel aus dem Regal gefallen ist. Manchmal hängt sich auch ein Programm auf oder der Scanner funktioniert nicht richtig." Möglichst schnell macht Büscher dann den Roboter wieder flott: "Wenn er nicht so will wie ich, kann es bis zu fünf Minuten dauern, bis das Problem gelöst ist."

Den abgesperrten Sicherheitsbereich, in dem die Transportroboter unterwegs sind, dürfen nur Mitarbeiter betreten, die die zweiwöchige Schulung zum Amnesty Responder durchlaufen haben. "Ich fand die Tätigkeit auf den ersten Blick interessant, weil man ja auch einen Einblick in Technik bekommt", sagt Büscher. Seine Ausbildung zur Fachkraft für Lagerlogistik hatte der heute 23-Jährige bei Galeria Karstadt Kaufhof gemacht. Wegen der Krise der Warenhauskette wurde er nach dem Abschluss im Jahr 2019 nicht übernommen und war zwei Monate arbeitslos. Dann eröffnete Amazon das Logistikzentrum.

Im vergangenen Jahr seien in fast allen Logistikberufen weniger Ausbildungsverträge abgeschlossen worden, sagt Tatjana Kronenbürger vom DSLV. Sowohl die Unternehmen als auch viele junge Leute hätten lieber abgewartet. Für dieses Jahr erhofft sie sich auch eine positive Wirkung der Pandemie: "Die Krise hat mehr Aufmerksamkeit dafür geweckt, wie wichtig die Logistik für die Versorgung von Industrie, Handel und Bevölkerung ist. Das könnte jetzt dabei helfen, Nachwuchskräfte zu gewinnen."

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