Lesekonzept "Intra Act Plus":Der Drill der frühen Jahre

Gefährliches "Automatisieren" oder pädagogisches Heilmittel? Unter Experten ist ein Streit über das neue Lese- und Schreibkonzept "Intra Act Plus" entbrannt.

Tanjev Schultz

In der Klasse 1a üben die Kinder wieder mal die Buchstaben. Vor ihnen liegen Arbeitsblätter, auf denen in großer Schrift kleine Zeichen stehen, jedes in einem Kästchen.

Lesekonzept "Intra Act Plus": Die Freude an den Buchstaben: Kinder sind stolz, wenn sie die Welt der Schrift erobern. Immer wieder entbrennt aber unter Fachleuten ein Streit darüber, welches die beste Methode ist, Grundschülern das Lesen und Schreiben beizubringen.

Die Freude an den Buchstaben: Kinder sind stolz, wenn sie die Welt der Schrift erobern. Immer wieder entbrennt aber unter Fachleuten ein Streit darüber, welches die beste Methode ist, Grundschülern das Lesen und Schreiben beizubringen.

(Foto: Foto: dpa)

Mit einer selbstgebastelten Schablone decken die Kinder alles zu, bis auf einen Buchstaben, den sie ihrem Nachbarn vorlesen: d, b, noch mal b, d, wieder d. Im nächsten Schritt lesen sie Silben: do, bo, do. "Hast du gut gemacht", sagt ein Mädchen zu ihrem Lesepartner.

Um das Kurzeitgedächtnis zu löschen, sind geometrische Figuren eingestreut: "Blauer Stern", sagt ein Junge, anschließend liest er weiter: "bo, do, du, roter Stern, bu, bu." Die Methode soll den Kindern helfen, sich die Schriftzeichen einzuprägen. Die Schüler wiederholen immer wieder Buchstaben und Silben, ohne Fibel, ohne Geschichten. Sie üben, bis es richtig sitzt.

Automatisieren - so heißt das im Konzept "Intra Act Plus", kurz IAP, das eine Grundschule im Landkreis München gerade ausprobiert. Die Autoren von IAP, die Psychologen Fritz Jansen und Uta Streit, versprechen, Kindern besser und schneller Lesen und Schreiben beizubringen, und sie drängen damit auf den Fortbildungsmarkt für Lehrer.

In Hamburg und Sachsen trifft das Konzept bereits auf Resonanz. Doch es fehlt nicht an warnenden Stimmen. In einer Expertise, die an diesem Montag erscheint, warnt der Erziehungswissenschaftler und Grundschulexperte Hans Brügelmann vor "didaktischen Allaussagen und pädagogischen Heilsversprechen".

Brügelmann, Professor in Siegen, hat IAP im Auftrag des Berlin-Brandenburger Landesinstituts für Schule und Medien (Lisum) begutachtet. Sein Urteil ist vernichtend: Die Methode sei "lerntheoretisch zweifelhaft, fachdidaktisch unhaltbar und grundschulpädagogisch nicht wünschenswert".

Kritiker stört an IAP, dass es die Kinder stumpfsinnig immer wieder Buchstaben und Silben trainieren lasse, ohne diese mit Bedeutungen zu verbinden. Der Vorwurf lautet, wenn man die wohlgesetzte Sprache des wissenschaftlichen Diskurses beiseiteräumt: IAP drillt die Kinder.

Professor Brügelmann spricht von einem "veralteten behavioristischen Ansatz" und didaktischer Einseitigkeit. Das Konzept schreibe für alle Kinder den gleichen Lernweg vor und steuere diesen "kleinschrittig". Es sei außerdem "motivationspsychologisch bedenklich, dass IAP die Kinder beim Trainieren sinnloser Silben abhängig macht von einer Bestätigung von außen, statt durch das Erlesen von Sinnvollem und für sie persönlich Interessantem ihre autonome Leseneugier zu stärken".

An der Grundschule vor den Toren Münchens betonen die Lehrer, hier werde IAP zunächst nur getestet; sie lassen aber durchblicken, dass sie durchaus auch Erfolge mit dem Programm erzielen. In Hamburg ist die Pädagogin Gudrun Probst-Eschke sogar voll des Lobes. Sie leitet die Sprachheilschule Reinbeker Redder und sagt, dank IAP würden sich Schüler die Schriftsprache schneller erschließen. Zu oft werde im traditionellen Leseunterricht mit Fibeln und Anlauttabellen die eigentliche Technik des Lesens vernachlässigt.

Für Probst-Eschke haben die traditionellen Methoden Nachteile: Wolle man Kindern das große M beibringen und erzähle ihnen deshalb eine Geschichte von einer Maus, seien die Kinder zwar von der Maus fasziniert - doch das M hätten viele dabei nicht gelernt. IAP dagegen lege die Grundlagen, um sicher mit Buchstaben und Wörtern umgehen zu können. Es sei nicht nur ein gutes Konzept für Einzeltrainings mit Kindern, die spezielle Förderung brauchen. Es funktioniere auch in ganzen Klassen.

Auf der nächsten Seite lesen Sie, warum das Konzept in scharfem Kontrast zu Ansätzen, die den Kindern ein freies Schreiben erlauben.

Der Drill der frühen Jahre

Eine zentrale Idee von "Intra Act Plus" ist es, die Kinder in kleinen Schritten üben zu lassen und zu verhindern, dass sie fehlerhafte Schreibweisen benutzen: "Würde das Kind "fahren" so schreiben, wie es dieses Wort hört ("faren"), so würde diese Schreibweise gespeichert, und das Kind würde später mehr Übungsdurchgänge benötigen, um diese falsche Gedächtnisspur zu korrigieren", heißt es im IAP-Lehrbuch.

Damit steht das Konzept in scharfem Kontrast zu Ansätzen, die den Kindern ein freies Schreiben erlauben, um in ihnen die Freude am schriftlichen Ausdruck zu wecken.

IAP-Autor Jansen beruft sich auf Studien der Gehirnforschung, die seine Kritiker angeblich nicht zur Kenntnis nähmen. Und er sagt: "Kinder wiederholen gern." Derzeit würden lerngestörte Kinder oft eine unheilige Allianz mit den Erwachsenen eingehen - denn beide Gruppen würden Wiederholungen scheuen. Jansen kritisiert, dass in viele Lesefibeln die Buchstaben lustig verziert sind. Das würde die Kinder ablenken und sie daran hindern, sich auf die Technik des Lesens zu konzentrieren.

Jansen ist promovierter Psychologe, in München betreibt er eine Fortbildungseinrichtung; seine Kritiker sagen, IAP entwickle sich zu einem großen Geschäft.

Die IAP-Bücher sind allerdings nicht als Taschenbücher für den massenhaften Bahnhofsverkauf konzipiert, sondern im Fachverlag Springer erschienen. Sie enthalten viele komplexe Begriffe, jedoch auch Sätze, die in ihrem Gestus eher pseudowissenschaftlich anmuten: Fähigkeiten, die unbewusst gesteuert werden, könnten in höherer Geschwindigkeit gehandhabt werden, heißt es da zum Beispiel, und dann: "Der Geschwindigkeitsvorteil liegt mindestens bei 1000 - 2000%". Offenbar sollen die Leser durch scheingenaue hohe Zahlen beeindruckt werden (wie auch durch den eher sinnlosen Namen "Intra Act Plus").

Immer wieder gibt es Gurus, die behaupten, die ultimative Methode fürs Lesenlernen gefunden zu haben. Ist Jansen so ein Guru? Maria Fölling-Albers, Professorin für Grundschuldidaktik in Regensburg, hält ihm zumindest vor, sein Konzept nicht ausreichend empirisch überprüft zu haben. Und sie hat Zweifel, ob es sinnvoll ist, alle Schüler mit einer so puristischen Methode zu traktieren.

In seinem Gutachten argumentiert Hans Brügelmann, IAP werde noch nicht einmal den eigenen Ansprüchen gerecht. So sollen zunächst Silben wie MO, MA und MI trainiert werden, bevor ganze Wörter geübt werden. Doch in dieser Form, sagt Brügelmann, werden die Vokale stets lang/geschlossen gesprochen, in Wörtern später hingegen oft kurz/offen, wie in "Motte" (versus "Motor") oder "Matte" (versus "Maler"). Die Aussprache ergebe sich nicht synthetisch aus der Addition von Einzellauten, sondern werde durch die Sinnerwartung mitentschieden.

In IAP werde also etwas Falsches nicht nur gelernt, sondern systematisch trainiert: "Entweder wird durch das Programm das Lernen behindert - oder die Annahme der Autoren stimmt nicht, dass vereinfachte Zwischenformen ("Fehler") das Lernen stören." Dass es sich hier nicht um eine Privatfehde zwischen Brügelmann und Jansen handelt, zeigt die lange Liste mit den Namen von gut 40 Experten, die laut Brügelmann das kritische Gutachten in seinem Kern mittragen, unter ihnen der Gehirnforscher Gerald Hüther, Grundschulpädagogen wie Jörg Ramseger und Horst Bartnitzky, Schulforscher wie Wilfried Bos und Fachleute für den Schriftsprach-Erwerb wie Renate Valtin.

Die IAP-Autoren würden mehr als 30 Jahre Forschung zum Schriftsprach-Erwerb ignorieren, sagt Brügelmann. Und dass Kinder es mit (oder trotz) IAP schaffen, Lesen und Schreiben zu lernen, bedeute noch lange nicht, dass dies eine gute Methode sei. Vor Heilserwartungen will Brügelmann warnen - und vor einem Unterricht, der die Kinder abrichtet wie bei einer Dressur.

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