Süddeutsche Zeitung

"Lernraumlabore":Aufmöbeln

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In Workshops entwickeln Schüler gemeinsam mit Architekturstudenten Interieurs, die ihre Schulen wohnlicher machen.

Von Christiane Bertelsmann

Gemütlich! Luka aus der Klasse 4a kuschelt sich in den Lesekraken, einen mehr als zwei Meter großen, an der Wand im Flur ihrer Schule befestigten eiförmigen Holzrahmen. Über ihr wacht ein großer Krakenkopf. Die weichen orange-roten Fangarme aus Teppich dienen der Viertklässlerin als bequeme Liegeunterlage. Lukas Freundin hat auch Platz in dem Kraken. Wenn die Mädchen ihre Ruhe haben wollen, können sie auf einer Seite eine Platte anbringen. Die sieht aus wie ein U-Boot und fungiert als Sichtschutz.

Die Idee für das Möbel stammt von Luka selbst. "Kraken gehören zu meinen Lieblingstieren", sagt Luka. Sie und ihre Mitschüler aus der Evangelischen Schule Neukölln in Berlin haben den Kraken im Workshop "Lernraumlabor" entworfen. Noch ist das Krakentier ein Provisorium aus Sperrholz und Pappe, aber mit etwas Glück könnte es oder ein anderes Modell, das die Schüler entworfen haben, in Serienproduktion gehen.

"In einem Jahr möchte ich das hier realisiert sehen", sagt Andreas Hammon und klingt dabei optimistisch. Der Architekt, Pädagoge und Schulraumentwickler hat die "Lernraumlabore" entwickelt und bietet sie in Schulen in der Schweiz, Österreich, Italien und Süddeutschland an. Beim Workshop in Berlin ist er selbst mit dabei. Zu Beginn des Projekts haben die Schüler der Klasse vier bis zehn darüber nachgedacht und diskutiert, wie die Schulmöbel aussehen sollten, die sie sich wünschen - Möbel, die ihren Schulalltag bunter und das Lernen leichter machen würden. Bei den Workshops sind Architekturstudenten mit dabei, das gehört zu Hammons Konzept, das sich für alle Schularten, auch für Inklusionsschulen, eignet.

Mit Unterstützung der Studenten zeichnen die Schüler Entwüfe, bauen Modelle und konstruieren ihre Möbel in Originalgröße

Schnell kam bei dem Workshop heraus: Die Schüler der Evangelischen Schule Neukölln mögen runde Formen, es darf bunt sein. Und man soll darin die Sitz- oder Liegeposition wechseln und sich zurückziehen können. Im Laufe der Woche machen die Kinder in der zum Projektraum umgewidmeten Schulturnhalle die ersten Entwurfszeichnungen, dann bauen sie mit Hilfe der Studierenden Modelle im Maßstab 1 : 10 und schließlich - der Höhepunkt - konstruieren sie die Möbel in Originalgröße und stellen sie der ganzen Schule vor.

Emely ist in der neunten Klasse und präsentiert zusammen mit Elias, Sabah, Rinah und Valerie aus der 4b ihre Sitzempore, eine Art Hängematte mit Baldachin aus hellem, dickem Stoff, die platzsparend an der Decke befestigt wird. Sitzen kann man in der Empore auf einem mit knallgrünem Stoff bezogenen Brett - grün, weil das an ein Baumhaus erinnert, sagt Rinah. "Das könnte man bei Gruppenarbeiten benutzen oder wenn man sich nicht gut fühlt und allein sein möchte", erklärt sie.

Die Evangelische Schule Neukölln leidet massiv unter Platzproblemen - so wie viele andere Schulen. "Wir haben den Hortbetrieb ausgebaut, das Gebäude wird zu klein, wir müssen die Nachmittagsbetreuung zum Teil in die Klassenräume verlegen, das ist nicht optimal", sagt Schulleiter Thorsten Knauer-Huckauf. "Unsere Schüler sind bis zu zehn Stunden täglich in der Schule. Auch deshalb brauchen sie dringend Rückzugsräume." Außerdem soll die Schule saniert und erweitert werden.

Schüler im Ganztagsbetrieb brauchen auch Rückzugsmöglichkeiten zum Erholen und Entspannen

Schulraumentwickler Hammon wird in solchen Fällen oft dazugeholt. "Wenn die Umgebung passt, wird das Lernen leichter", sagt er, "Man kann das mit passendem Schuhwerk auf einer großen Wanderung vergleichen: Drückt der Schuh, ermüden wir schneller, und unsere Aufmerksamkeit ist gebunden." Gerade beim Ganztagsbetrieb und den erweiterten Anforderungen an Schule bräuchten Kinder und Jugendliche eine vielfältigere Umgebung, um effektiv lernen zu können: Unterschiedliche Lernsettings für individualisierte Arbeitsphasen - entweder allein, zu zweit oder in Gruppen -, aber auch für Entspannung, Erholung und Rückzug.

"In dieser Schule sind die Klassenräume recht klein und entsprechen nicht mehr den zeitgemäßen Anforderungen, im Unterricht flexibel und in Gruppen zu arbeiten", sagt Architekt Henry Ripke. Er lehrt an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg (BTU) als Architekturprofessor und nimmt mit seinen Studenten am Workshop teil. Seine Studentin Susanne Schneider-Weller hat den Schülern beim Bauen des Lesekraken geholfen. "Ich fand es toll, mit den Leuten zu arbeiten, bei denen die Arbeit auch wirklich ankommen muss. Das hat man sonst selten", sagt sie. "In Schulen gibt es wenig Raum für Individualität, alles ist vorgegeben. Schön, wenn das mal anders ist."

Für Schulen, die mit Problemen wie dauerdefekten Schultoiletten oder maroden Gebäuden kämpfen müssen, scheint so etwas wie der Bau individueller Schulmöbel Luxus zu sein. Andreas Hammon betont indes, dass sein "Lernraumlabor" keine überflüssige Beschäftigungstherapie sei. "Lernen heute findet zum Großteil noch in Gebäuden statt, deren Werte, Haltungen und Lernverständnis dem 19. und 20. Jahrhundert entstammen - dabei braucht es manchmal nicht viel, um Schule auch räumlich neu zu denken." Man könne aber auch schon mit kleinen Maßnahmen viel erreichen.

Einige Erfindungen sind so überzeugend, dass sich Möbel- firmen dafür interessieren

Die Evangelische Schulstiftung in der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), die das Projekt initiiert hat, wird mit dem "Lernraumlabor" noch an drei weitere Schulen in Berlin und Brandenburg gehen, um es dann an allen 32 Schulen der Schulstiftung anzubieten. Wenn sich die Prototypen bewähren, könnten sie in Serienproduktion gehen. Bei der Präsentation in der Neuköllner Schule ist schon jetzt der Produktentwickler einer Möbelproduktionsfirma dabei - gerade einfachere Möbel wie den Lesekraken oder den Lernelefanten, einen ebenfalls an der Wand befestigten Rückzugsraum, hält er durchaus für serientauglich.

Und die Finanzierung? Frank Olie, der Vorsitzende der Schulstiftung, ist gerade dabei, Sponsoren von dem Projekt zu überzeugen, die dann die Produktionskosten für die Möbel übernehmen könnten. Olie findet das Programm wichtig und hofft, dass es auch auf andere Schulen Ausstrahlungskraft hat: "Schulentwicklung fängt heute in den Köpfen an und setzt sich in den Räumen fort."

Der Lesekrake gefällt übrigens auch den älteren Schülern. "Wir können den Kraken flexibel umbauen, nur der Holzrahmen ist fest", erklärt Architekturstudentin Susanne Schneider-Weller. Für die größeren Schüler lässt sich der Krakenkopf abnehmen und der Innenraum des Refugiums anders ausgestalten. "Zum Beispiel mit einer Lichterkette oder noch mehr Kissen", erklärt die angehende Architektin. Vielleicht wird es in ein paar Jahren dann mal in der Neuköllner Schule so aussehen, wie es sich Emely schon lange wünscht: "So, dass ich sage: Hey, das ist eine supercoole Schule, da will ich jeden Tag hin."

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Quelle:
SZ vom 17.05.2019
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