Süddeutsche Zeitung

Lernen mit Behinderung:Geförderte Glückskinder

Lesezeit: 4 Min.

Die Grundschule in Rohrdorf integriert Behinderte ins Schulleben.

Dietrich Mittler

Rechnen, Lesen und Mobilitätssübungen mögen durchaus wichtige Dinge im Leben sein, doch die achtjährige Ronja bewegt jetzt eine viel grundsätzlichere Frage: "Philipp, sag einmal, bist Du wirklich schon vergeben?" Auf eine solche Frage ist der 20-jährige Helfer, der Ronja gerade zum Laufen ohne Gehstützen animieren wollte, nicht gefasst. Er stutzt. Dann kommt er raus mit der Wahrheit: Ja, er ist vergeben. Ronjas Mimik verrät, dass ihr diese Antwort missfällt und dass Philipp darüber bitteschön noch einmal nachdenken sollte. Wie all die anderen behinderten Buben und Mädchen, die in der Rohrdorfer Grundschule an einem Integrations-Modellversuch teilnehmen können, strotzt die Achtjährige vor Selbstbewusstsein.

In dieser Hinsicht ist Ronja ein Glückskind. "Leider ist die schulische Integration behinderter Kinder in Bayern längst noch nicht selbstverständlich", klagt Mathias Kluge, der Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Bayern "Gemeinsam leben, gemeinsam lernen". Bestätigt fühlt sich Kluge durch einen Bericht des UN-Sonderberichterstatters Venor Muñoz, der Deutschland vor allem aber Bayern vorwirft, behinderte Kinder und Jugendliche zu wenig in die Regelschulen zu integrieren. Während in Berlin 45 Prozent der behinderten Kinder eine öffentliche Schule besuchten, seien es in Bayern gerade mal ein Drittel. Das Kultusministerium reagierte auf die Kritik verschnupft: "An Bayerns Schulen werden alle Schülerinnen und Schüler bestmöglich begabungsgerecht gefördert."

Mit der Änderung des Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes im Jahr 2003 sei viel in Bewegung gekommen, gibt auch Anita Knochner, die Behindertenbeauftragte der Staatsregierung zu bedenken. Das Gesetz habe es ermöglicht, Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf an allgemeinen Schulen unter bestimmten Voraussetzungen zu integrieren. "Die grundsätzliche Öffnung bayerischer Regelschulen für behinderte und chronisch kranke Kinder wurde jedoch im selben Gesetz wieder eingeschränkt", kritisiert indessen die Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe als Dachorganisation der Behindertenselbsthilfeverbänden in Bayern.

Ob ein Kind die Voraussetzungen für die Regelschule mitbringe, entscheide immer noch das Schulamt und nicht die Eltern. Die Eltern würden nach wie vor in eine Bittstellerrolle gedrängt, sagt Kluge. Anita Knochner kritisiert, dass Behinderten-Integration oft schon allein daran scheitere, dass viele Schulen nicht barrierefrei sind.

Stars der Stunde

Zu den vom Kultusministerium favorisierten Integrationsmodellen zählen vor allem die derzeit 418 Kooperationsklassen an den Volksschulen. Bei diesen wird eine Gruppe von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in eine allgemeine Klasse aufgenommen - und dabei auch von Sonderpädagogen unterstützt, um im günstigsten Fall später mal in eine normale Regelklasse überzuwechseln. Hinzu kommen die derzeit 124 Außenklassen, in verwaltungsmäßig zu eine Förderschule gehören, räumlich aber in einer normalen Volksschule untergebracht sind.

Eine solche Außenklasse - hier des Förderzentrums Aschau - besucht auch Ronja. Sie gehört damit zu jenen 17.359 behinderten Kindern in Bayern, die zumindest in einigen ausgewählten Fächern zusammen mit nicht behinderten Mitschülern gemeinsam unterrichtet werden. Heute haben Ronja und ihre acht ebenfalls spastisch gelähmten Mitschüler gemeinsamen Lese-Unterricht mit der Klasse 1a.

Die nicht behinderten Kinder verteilen sich quirlig im gesamten Klassenzimmer zu einem Sitzkreis. Ronja, Lukas, Christina, Jessica, Sebastian, Johannes, Julia, Dominik und Patrik sind jetzt eindeutig die Stars der Stunde. Sie dürfen aus dem Kreis ihrer nicht behinderten Mitschülern diejenigen auswählen, die sich zu ihnen an den Tisch setzen dürfen. Die Schüler der 1a strengen sich gewaltig an, damit die Wahl auf sie fällt. Da wird mit den Händen gewunken, mit den Fingern geschnippt. Ronja kann sich vor Bewerbern kaum retten.

Gemeinsam werden die Kinder nun mit einer Magnet-Angel Wörter aus einer Kiste fischen und sich gegenseitig vorlesen - eine Aufgabe, die vor allem von Julia viel abverlangt, die von allen derzeit am heftigsten mit ihrer Behinderung zu kämpfen hat. Ihre Mitschüler haben gelernt, Julia nur solche Frage zu stellen, die sie mit "Ja" oder mit "Nein" beantworten kann. Sie wissen auch, dass Julia stets ein "Kommunikationsbuch" bei sich hat - mit Bildern von Papa und Mama, mit Angaben über ihre Lieblingsfarbe und vieles mehr.

"Julia ist hochintelligent", sagt Zsuzsanna Hadhazi. Die Ungarin ist mit ein Grund dafür, warum der seit zwei Jahren laufende Modellversuch an der Grundschule Rohrdorf, der zudem eine Tagesstätte angeschlossen ist, bundesweit seinesgleichen sucht. Als so genannte Konduktorin behandelt sie behinderte Kinder nach der Petö-Therapie - auch und gerade während des Unterrichts, den Hadhazi zusammen mit der Sonderpädagogin Dagmar Herrler gestaltet.

Bei der nach dem ungarischen Neurologen András Petö benannten Methode vereinen die Therapeuten in sich Aufgaben der Physio- und Bewegungstherapie, der Logopädie, der Motopädie und sind zugleich aber auch Sonderpädagogen, Erzieher, Pfleger und Lehrer.

"Wir sind so froh, dass unsere Kinder hier diese ganzheitliche Förderung auch während des Unterrichts erhalten und so zur Selbständigkeit erzogen werden", sagt Ingeborg Schlazer. Die 43-Jährige ist die Mutter von Sebastian, der nach ihren Worten "total begeistert" von der Schule ist: "Wenn er nachmittags nach Hause kommt, ist nur noch am Erzählen." Am heutigen Tag wird der Zehnjährige seiner Mutter berichten, wie er nach dem Lese-Unterricht ohne Rollstuhl - sondern ganz allein mit Krücken - auf den Schulhof gegangen ist und dort mit einem Scooter zwischen den Füßen der Mitschüler herumgesaust ist.

Erst mal Dampf ablassen

Grundsätzlich gehen die behinderten Schüler in Rohrdorf eher in die Pause als ihre nichtbehinderten Mitschüler. "Diese Zeit brauchen sie", sagt Lehrerin Dagmar Herrler. Kurze Zeit später stürmen die nichtbehinderten Kinder mit Gejohle auf den Hof - vorbei an den Buben und Mädchen mit ihren Krücken oder Rollstühlen. "Die müssen nach dem Unterricht auch erst einmal Dampf ablassen", sagt Schulrektor Wolfgang Zeller.

Kurz darauf steht bereits einer der nichtbehinderten Buben bei Patrik, schiebt den Rollstuhl an, und es beginnt eine atemberaubende Jagd rund um den Schulhof. "Gerade die größeren Rabauken haben plötzlich ihre soziale Ader entdeckt", sagt Zeller. Die Präsenz der behinderten Kinder habe letztlich alle Beteiligten verändert: die Lehrer, die Mitschüler, die Eltern. "Wenn Sie so wollen, erlernen wir hier soziale Sensibilität zu Nulltarif", bringt es der Schulleiter auf den Punkt.

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Quelle:
SZ vom 6.7.2007
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