Leistungsdruck in der Grundschule:Die Zeit könnte es richten

Dabei sei der Zeitfaktor wahnsinnig wichtig. Manches Kind, dass zu Hause bereits mit den Eltern Lesen gelernt hat, ist einen Schritt voraus. Sozial benachteiligte Kinder hingegen haben diesen Vorsprung vielleicht nicht und brauchen deshalb länger - lernen aber eigentlich noch mehr als ihre Klassenkameraden. Messbar in Noten ist diese Leistung nicht. Und trotzdem wollen Noten genau das vermitteln: den Eindruck einer objektiven Leistungsskala, so der Vorwurf.

Schulanfänger

Am ersten Schultag ist die Welt noch in Ordnung. Erst die Noten bringen Kinder und Eltern zum Verzweifeln.

(Foto: DPA-SZ)

Diese Art der Leistungsermessung nehme den Kindern jede Lust am Lernen. Es gehe nicht mehr darum, bestimmte Fähigkeiten zu erlernen, sondern gute Noten zu bekommen. "Das verhindert bei kleinen Kindern das organische Lernen, bei den Älteren das entgrenzte Lernen", so Czerny. Dabei sei genau das heute so wichtig: dass Schüler sich in dem Gebiet fortbilden, das ihnen liegt und das sie interessiert - auch fernab des Lehrplans. Das krampfhafte Streben nach Einsern oder Zweiern bringt da wenig.

Das sieht auch Klaus Wenzel, Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes so: "Unser Leistungsbegriff ist ziemlich erbärmlich - nicht umsonst spricht man in diesem Zusammenhang vom Bulimie-Lernen", sagt er im Münchner Literaturhaus.

Die Zustimmung unter den Zuhörenden in München ist groß. Immer wieder unterbricht spontaner Applaus Czernys Ausführungen, spontane "Bravo"-Rufe schallen nach vorne. Dass Lehrer in Deutschland neben dem Bildungsauftrag auch einen klaren Selektionsauftrag haben, ist ein Widerspruch, der viele der Anwesenden zornig macht. Es gibt die Noten eins bis sechs - also müssen sie auch alle vergeben werden, damit der Schnitt stimmt. Eine Vorgabe, die Lehrer wie Schüler verzweifeln lässt, wie dieser Abend suggeriert.

Sabine Czerny jedenfalls ist davon überzeugt, dass es auch anders geht. Eine Schule, in der es mehr Freiräume zum individuellen Lernen gibt, wünscht sie sich. Wo es keine Noten gibt, sondern klare Anforderungen, die die Schüler erfüllen müssen - in ihrem Tempo. Am Ende könnte dann statt einer Abschlussnote ein Kompetenzbaum stehen, der detailliert auflistet, welche Fähigkeiten ein Schüler im Laufe seiner Schulzeit erworben hat. Hier hätten die fünf Jahre Theater-AG ebenso Platz wie die Sprach- und Mathematikkenntnisse.

Das Argument, dass Noten die Leistungen von Schülern international vergleichbar machen, lässt Czerny nicht gelten. "Was sagt uns denn eine Abiturnote? Wir wissen nicht, in welchen Fächern geprüft wurde und bei welchen Lehrern. Diese Art der Leistungsbewertung ist an sich völlig intransparent", sagt sie.

Dass ihr engagierter Kampf für ein gerechtes Bildungssystem sie ihren Job kosten könnte, weiß sie. Aber einfach an eine Waldorfschule zu wechseln - diese Zusatzausbildung hat sie - und dort unbehelligt ein Leben und Lehren ohne Noten zu praktizieren, kam für sie trotzdem nicht in Frage. "Ich fühle mich beim Unterrichten in der Regelschule noch immer am freiesten. Ich muss mich nicht einer Ideologie unterordnen und kann individuell entscheiden, welche Methode jeweils für die Kinder meiner Klasse richtig ist", sagt sie.

Dass am Ende trotz allem persönlichen Engagement das System stärker ist, frustriert sie dennoch. "Ich habe die Vorgabe, die Notenskala auszuschöpfen und ich muss selektieren - auch wenn das den Kindern die Motivation raubt. Ich habe in diesem System keine Chance, nur gute Schüler in meiner Klasse zu haben." Dafür kämpfen wird sie trotzdem. Vormittags in ihrer Schulklasse, nachmittags in Interviews - "weil ich will, dass Schule besser wird". Man glaubt es ihr.

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