Leiharbeiter:Sklaven des Aufschwungs

Sie bauen Autos, pflegen Alte und arbeiten im Supermarkt: In den meisten Branchen verdienen Leiharbeiter dabei weniger als ihre regulär angestellten Kollegen. Sie zahlen den Preis für das deutsche Jobwunder

Thomas Öchsner

Im Frühjahr 2009 erhielten Unternehmen in Nordrhein-Westfalen ungewöhnliche Post. "Kalkulieren Sie mit spitzem Bleistift, dank unserer Wirtschaftskrisen-Rabatt-Aktion", konnten sie in einem Werbesprospekt lesen. Und weiter hieß es darin: "Exklusiv für Sie - Sichern Sie sich jetzt 15% Rabatt auf alle Hilfs- und Fachkräfte." Eine Zeitarbeitsfirma hatte wie bei Rabattaktionen für Teppiche ihre Mitarbeiter wie Waren feilgeboten.

Leiharbeiter: Ursprünglich wurden Leiharbeiter nur in Boomzeiten eingestellt - also dann, wenn im Unternehmen außergewöhnlich viele Aufträge abzuarbeiten waren. Mittlerweile sind viele Arbeitgeber aber dazu übergegangen, durch die Anstellung von Leiharbeitern systematisch tarifliche Standards zu unterlaufen. In der Stahlbranche soll sich das nun ändern.

Ursprünglich wurden Leiharbeiter nur in Boomzeiten eingestellt - also dann, wenn im Unternehmen außergewöhnlich viele Aufträge abzuarbeiten waren. Mittlerweile sind viele Arbeitgeber aber dazu übergegangen, durch die Anstellung von Leiharbeitern systematisch tarifliche Standards zu unterlaufen. In der Stahlbranche soll sich das nun ändern.

(Foto: AP)

Damals ging es der Branche noch schlecht. Zehntausende Leiharbeiter verloren in der Krise ihren Job. Jetzt, im Aufschwung, ist es umgekehrt: Jede dritte neue Stelle besetzen Arbeitgeber mit Aushilfskräften von Zeitarbeitsfirmen, die ihre eigenen Mitarbeiter gegen Gebühr an andere Unternehmen verleihen. Die Branche boomt wie noch nie - und zugleich wächst die Kritik an der Leiharbeit.

Sie bauen Autos, pflegen die Alten oder arbeiten in Einkaufsmärkten. In Deutschland gibt es etwa 750.000 Leiharbeiter. Wenn sich der Boom fortsetzt, könnten es bald eine Million sein. Der typische Leiharbeiter ist ein Mann mit Vollzeitjob, der kurzfristig vor allem in die Metall- und Elektroindustrie vermittelt wird. Die Frauen sind meist im Gesundheits- und Dienstleistungsbereich tätig. Gut die Hälfte der Zeitarbeiter ist nach einer Untersuchung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung nicht älter als 35 Jahre alt.

Anfang des Jahrtausends spielte das Phänomen in Deutschland noch kaum eine Rolle. Dann wollte die rot-grüne Regierung Hürden für Neueinstellungen beseitigen, die Schwarzarbeit bekämpfen - und so der Massenarbeitslosigkeit den Kampf ansagen. 2003, noch vor den Hartz-Reformen, wurde der Einsatz von Leiharbeitern vereinfacht, Schutzvorschriften wurden gestrichen: Seitdem dürfen die derzeit 23.000 Zeitarbeitsfirmen Mitarbeiter speziell für einen Auftrag befristet einstellen. Sie können die Leiharbeiter auf unbegrenzte Zeit in ein Unternehmen entsenden.

Außerdem steht der Grundsatz "Gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit", den die Tarifparteien in der Stahlbranche jetzt wieder einführen wollen, in der Regel nur noch auf dem Papier. Abweichende Regelungen sind durch Tarifverträge möglich, und solche gelten für fast alle Leiharbeiter. Sie erhalten von ihrer Zeitarbeitsfirma im Schnitt 20 bis 25 Prozent weniger Geld als Kollegen, die regulär beschäftigt sind. In der untersten Lohngruppe beläuft sich der Stundenlohn im Westen auf 7,60 Euro, im Osten sind es 6,40 beziehungsweise 6,65 Euro. Jeder Achte verdient so wenig, dass er zusätzlich auf Hartz IV angewiesen ist.

Überschätzter "Klebe-Effekt"

Die Folgen der Reformen sind zwiespältig. Einerseits ist die Leiharbeit Teil des deutschen Jobwunders. Knapp die Hälfte der Leiharbeiter war vorher ohne Job - und findet nun einen (Wieder-)Einstieg ins Berufsleben. Andererseits bleiben die meisten in der Leiharbeit gefangen. Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) endet mehr als die Hälfte der Leiharbeitsverhältnisse bereits nach drei Monaten. Die Hoffnung, dass viele Leiharbeiter den Wechsel in eine reguläre Beschäftigung schaffen, hat sich nicht erfüllt. Der "Klebe-Effekt" wird überschätzt. Nur sieben Prozent der früher arbeitslosen Leiharbeiter finden einen dauerhaften Job außerhalb der Zeitarbeitsbranche. "Leiharbeit ist zwar keine Brücke, aber zumindest ein schmaler Steg in Beschäftigung", sagt IAB-Direktor Joachim Möller.

IG Metall weitet Warnstreiks in Stahlindustrie aus

In der Leiharbeit gefangen: Der "Klebe-Effekt" wird überschätzt, nur wenige Leiharbeiter werden von den Unternehmen übernommen.

(Foto: dapd)

Gedacht war die Leiharbeit vor allem, um Auftragsspitzen in den Unternehmen auszugleichen. Seit dem Fall Schlecker rückt jedoch der Missbrauch verstärkt ins Blickfeld. Die Drogeriekette hatte versucht, in ihren Filialen systematisch die Stammbelegschaft durch billigere Leiharbeiter zu ersetzen. Dies gilt längst nicht mehr als Einzelfall. Ob bei der Bahn, der Telekom oder beim Münchner Flughafen: "Viele Firmen haben ein eigenes Zeitarbeitsunternehmen gegründet, um geltende tarifliche Standards zu unterlaufen", kritisiert Claudia Weinkopf vom Institut für Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg- Essen. Sozialethiker sprechen deshalb bereits vom "neuen Proletariat" und einer flexiblen "Zweitbelegschaft", die sich Firmen aufbauten.

Hinzu kommt: In der Branche herrschen teilweise frühkapitalistischen Zustände. Marcus Schulz von der niederländischen USG People Group, zuletzt die Nummer sechs auf dem deutschen Markt, erhob erst kürzlich schwere Vorwürfe gegen die Konkurrenz: "Immer noch werden Mitarbeiter vorsätzlich falsch eingruppiert, systematisch wird mit Krankenstand und Urlaubsansprüchen getrickst, um einsatzfreie Zeiten zu unterlaufen, die die Unternehmen eigentlich bezahlen müssten." Das Bundesarbeitsministerium räumte kürzlich ein, dass die Zahl der verhängten Bußgelder wegen Gesetzesverstößen enorm zugenommen hat. An diesen Missständen, das meinen zumindest die Gewerkschaften, wird sich auch durch das geplante Gesetz gegen den Missbrauch der Leiharbeit nicht viel ändern.

Für die meisten Bundesbürger ist deshalb der Fall klar: 85 Prozent sind laut einer Umfrage von TNS Infratest Politikforschung im Auftrag der IG Metall überzeugt, dass Leiharbeit Lohndumping fördert. Und mehr als zwei Drittel hält diese Beschäftigungsform schlicht für "eine moderne Form der Ausbeutung".

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