Leiharbeit:"Das System powert die Leute systematisch aus"

Dumpinglöhne, keine Tarifverträge, kein Kündigungsschutz: Gewerkschaften prangern den Missbrauch von Leiharbeit an. Der Arbeitssoziologe Klaus Dörre erklärt die Folgen prekärer Beschäftigung.

Julia Bönisch

Deutsche Unternehmen nutzen Leiharbeit nicht mehr zum kurzfristigen Ausgleich personeller Engpässe, sondern, so die IG Metall, "als Instrument einer kurzfristigen Absicherung der Kapitalrendite oder der Profitabilität". Die Gewerkschaft gründet diese Einschätzung auf die von ihr in Auftrag gegebene Studie "Funktionswandel von Leiharbeit". Klaus Dörre, Professor für Arbeitssoziologie an der Universität Jena, hat die Untersuchung wissenschaftlich begleitet. Im Interview erläutert er die zentralen Ergebnisse.

Leiharbeit IG Metall Interview Klaus Dörre, dpa

Arbeitssoziologe Klaus Dörre: "Durch Leiharbeit nehmen Verschleißeffekte und psychische Erkrankungen zu."

(Foto: Foto: oH)

sueddeutsche.de: Festanstellungen als Ausnahme, Leiharbeit und prekäre Beschäftigung als Regel: Herr Dörre, sieht so die Arbeitswelt der Zukunft aus?

Klaus Dörre: Leih- oder Zeitarbeit wird auch in Zukunft nicht die vorherrschende Beschäftigungsform sein. Aber zweifellos wird die Zahl solcher Arbeitsverträge weiter zunehmen. In Spitzenzeiten waren in Deutschland 800.000 Menschen als Leiharbeiter tätig. Heute sind es krisenbedingt zwar 230.000 weniger, weil die Leiharbeiter als erste entlassen wurden. Aber sobald die Konjunktur wieder anzieht, wird auch die Leiharbeitsbranche wieder boomen.

sueddeutsche.de: Wer arbeitet denn als Leiharbeiter: Sind es immer noch die Ungelernten?

Dörre: Nein, das ist nicht mehr so. Drei Viertel aller Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, besitzen eine abgeschlossene Ausbildung - zum Teil sogar eine akademische. Die Leute werden aber trotzdem für sogenannte Helfertätigkeiten eingesetzt.

sueddeutsche.de: Sie haben in Ihrer Studie untersucht, wie Unternehmen Leiharbeit einsetzen. Was sind Ihre zentralen Ergebnisse?

Dörre: Arbeitgeber nutzen Leiharbeit nicht mehr nur kurzfristig, um Produktionsspitzen aufzufangen. Stattdessen setzen Firmen sie mehr und mehr strategisch ein: Leiharbeiter arbeiten nicht mehr nur in der Produktion, sondern in allen Bereichen eines Unternehmens - auch als Sekretärinnen oder Ingenieure. Zudem wird der Zeitraum des "Verleihens" immer länger, so dass die Leiharbeiter zu einem festen Bestandteil der Belegschaft werden.

sueddeutsche.de: Das klingt erst einmal recht positiv: Die Leiharbeiter müssen sich nicht mehr alle vier Wochen neu orientieren, sondern können mit einer gewissen Konstanz rechnen.

Dörre: Vordergründig ja, aber solch eine strategische Nutzung der Leiharbeit radikalisiert das Problem nur. Zum einen hebeln Unternehmen so systematisch die Arbeitnehmerrechte aus, etwa den Kündigungsschutz. Zum anderen disziplinieren sich Festangestellte und Leiharbeiter gegenseitig.

sueddeutsche.de: Disziplinierung? Was meinen Sie damit?

Dörre: Die Festangestellten haben permanent das Gefühl, ihr Privileg eines relativ sicheren Jobs permanent gegen die Leiharbeiter verteidigen zu müssen. Die Leiharbeiter wiederum wollen natürlich so gut arbeiten, dass sie irgendwann ein Jobangebot erhalten. Ein reales Beispiel aus unserer Studie: In einem westdeutschen Betrieb wird Akkord und im Zweischichtbetrieb gearbeitet; eine Schicht besteht nur aus Leiharbeitern, die andere nur aus Stammbeschäftigten. Zuerst haben die Leiharbeiter zehn Prozent über Soll gearbeitet, dann zog die Stammbelegschaft nach. Dann legten wieder die Leiharbeiter vor und so weiter und so fort. Zum Untersuchungszeitraum lag der Betrieb bei 170 Prozent der Leistung.

sueddeutsche.de: Das dürfte ganz im Sinne des Unternehmers sein.

"Der Klebeeffekt ist ein Mythos"

Dörre: Natürlich - so lange, bis seine Leute völlig ausgebrannt sind. Solch ein System zielt darauf ab, die Leute systematisch auszupowern. Verschleißeffekte und psychische Erkrankungen nehmen zu. Das ist dann nicht mehr im Interesse der Firma.

sueddeutsche.de: Unternehmen und die Politik argumentieren, durch Leih- und Zeitarbeit werde Arbeitssuchenden der Einstieg in einen festen Job erleichtert.

Dörre: Dieser Klebeeffekt ist ein Mythos. Bei "normalen" Arbeitslosen ist die Quote derer, die eine Arbeit finden, genauso hoch wie bei Leiharbeitern. Arbeitsmarktpolitisch macht es also keinen Unterschied, ob die Menschen vorher an eine Firma ausgeliehen wurden oder nicht. Und gesellschaftlich ist der Einsatz von Zeitarbeitern eine Katastrophe: Werden sie als Reservearmee in Betrieben vorgehalten, verliert eine komplette Gruppe den Anschluss an weite Teile der Gesellschaft. Ihre Lohneinbußen liegen zwischen 20 und 30 Prozent, die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter. Ganze Regionen fallen zurück, weil dort die Kaufkraft sinkt.

sueddeutsche.de: Wie wirkt sich die Wirtschaftskrise auf die Branche aus?

Dörre: Ursprünglich sollten die Gewinne aus den Boomzeiten in die Weiterbildung der Leiharbeiter investiert werden, sobald die Wirtschaft ins Stocken gerät. Doch dieses Versprechen haben die Leiharbeitsfirmen nicht gehalten: Zeitarbeiter wurden von den Firmen natürlich als erste entlassen und haben dann auch beim Verleiher keine Verträge mehr bekommen. Erstaunlicherweise ging das alles bislang sehr geräuschlos. Doch es wird in den nächsten Monaten auch noch zu Entlassungen bei der Stammbelegschaft kommen.

sueddeutsche.de: Und die dann Arbeitslosen fangen nach der Krise wieder als Leiharbeiter an?

Dörre: Genau, darauf setzen sowohl die Zeitarbeitsfirmen als auch die ausleihenden Unternehmen. Das Geschäft ist sowohl im Sinne der Verleiher, die damit ihre Gewinne machen, als auch im Sinne der Unternehmen, die so den Kündigungsschutz außer Kraft setzen.

sueddeutsche.de: Was wäre für Sie die wünschenswerte Konsequenz - ein Verbot der Leiharbeit?

Dörre: Nein, aber Leiharbeit sollte gewissen Standards unterliegen: Der Grundsatz "Gleiches Geld für gleiche Arbeit" muss eingehalten werden. Dies betrifft im Übrigen nicht nur Leiharbeiter, sondern auch Frauen, die häufig schlechter bezahlt werden als ihre männlichen Kollegen. Im Prinzip müsste Zeitarbeit sogar besser bezahlt werden.

sueddeutsche.de: Wieso das?

Dörre: Ein Leiharbeiter ist im Durchschnitt drei Monate in einem Betrieb, manchmal sind es auch nur drei Wochen. Dann steht ein Wechsel an. Für diese Flexibilität müssen Leiharbeiter eine enorme Energie aufbringen. Deshalb sollte flexible Arbeit teurer sein, das würde der Leistung der Menschen viel mehr entsprechen. Dann würde Leiharbeit sogar attraktiv werden, vor allem für junge, gut ausgebildete Berufseinsteiger.

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