Süddeutsche Zeitung

Legal Process Outsourcing:Arbeit für Datendetektive

Big Data für Juristen: An der Schnittstelle von Recht und IT entstehen neue Jobs für Jura-Absolventen. Doch die Auslagerung von Routineaufgaben an externe Dienstleister ist für Unternehmen vor allem billig.

Von Christine Demmer

Der Fall: Eine global operierende Bank steht im Verdacht, an Zinsmanipulationen und Insiderhandel beteiligt zu sein. Der Ermittlungsrichter ordnet eine Razzia an und lässt Festplatten, Datenbänder, Laptops und Smartphones mit Millionen von Dokumenten aus den letzten drei Jahren beschlagnahmen. Die Bank trommelt ihre Rechtsvertreter zusammen, Behörden und Politik machen Druck. Dutzende Juristen der Anklagebehörde beginnen, die Datenmassen auf gerichtsverwertbare Belastungshinweise durchzusehen.

Die Frage: Wie viele eigene Juristen braucht die Bank oder die von ihr beauftragte Kanzlei für diese Tätigkeit, wenn sie vorsorglich Angriffspunkte entdecken und sich gegen mögliche Anschuldigungen in Stellung bringen will?

Die Lösung, die für große Wirtschaftsverfahren in England und Amerika Mitte der Neunzigerjahre erfunden wurde, heißt Legal Process Outsourcing (LPO) und gibt die Antwort: keine. Denn die aufwendige Dokumentensichtung und -aufbereitung am Computer, die sogenannte E-Discovery, lässt sich bequem bei Rechtsdienstleistern in Indien, China, auf den Philippinen, in den USA, Großbritannien und mittlerweile auch in Deutschland ordern. Ebenso wie die Gestaltung von Verträgen und Patentschriften, die Vorbereitung von Immobiliengeschäften und die Prüfung kartellrechtlicher Fragen, also alle juristischen Aufgaben, bei denen enorme Mengen an Daten und Dokumente zu sichten sind.

"Das spart den Kanzleien die Vorhaltung qualifizierter Mitarbeiter", sagt Clas-Steffen Feuchtinger vom Frankfurter LPO-Anbieter "reThinkLegal". Die junge Firma beschäftigt Juristen in Festanstellung und nimmt bei Bedarf weitere unter Projektvertrag. Rechtsberatung dürfen LPO-Anbieter in Deutschland zwar nicht leisten. Aber am Datenschatz können sie mitbuddeln. "Mit fünf Mitarbeitern können wir rund 130 000 Dokumente in zwei bis drei Monaten qualifiziert sichten und bewerten", sagt Feuchtinger.

Seit Siemens-Korruptionsfall mehr Dokumentensicherung

Mit Big Data kennt sich auch Michael Becker, Deutschland-Chef des Wettbewerbers Consilio, aus. "Vor Kurzem haben wir bei einem Dax-Unternehmen im Zuge einer Untersuchung die Daten von 40 Laptops gespiegelt", sagt der 39-Jährige, "auf jedem einzelnen befanden sich durchschnittlich zehn Gigabyte an verwertbaren Daten, das entspricht etwa 10 000 Dokumenten. Wir haben also rund vier Millionen Dokumente gesichert", sagt Becker. "Ohne intelligente Software, welche die Datenmenge signifikant filtert und reduziert sowie ein kompetentes Team an Juristen, kann man solche Datensichtungen aus ökonomischen und organisatorischen Gründen gar nicht durchführen."

Seit dem Siemens-Korruptionsfall nehme die Dokumentensicherung und -sichtung im deutschen Raum zu, sagt Becker, momentan arbeite man gleichzeitig an 50 Projekten. Dafür stehe ein Netzwerk von 1500 zugelassenen Rechtsanwälten zur Verfügung. "Mit denen bilden wir auftragsbezogen Teams, je nach Branche, Rechtsgebiet und Sprache, zum Beispiel Russisch, Arabisch oder Mandarin." Kaum ein Projekt beschränkt sich auf Landesgrenzen.

Alle Mitarbeiter seien freiberuflich tätig, der junge Anwalt, der eine kleine Kanzlei betreibt, die Mutter, die nur für die Dauer eines Projektes arbeiten will, der Jurist am Ende seines Berufslebens. Becker schwört auf seine Anwälte: "Die sind oft sehr engagiert, bauen ihre eigene Kanzlei auf, lieben aber die Projektarbeit. Manche wollen drei Monate lang hart arbeiten und die nächsten drei Monate herumreisen." Andere sähen die Arbeit beim LPO-Dienstleister als Sprungbrett, gingen später in eine Kanzlei oder in ein Unternehmen. "Es ist nicht schlecht, wenn junge Juristen im LPO Erfahrungen gewinnen", sagt Becker. Er selbst habe erlebt, wie hochbrisant und spannend Untersuchungen in Kartellrecht und Wirtschaftsstrafrecht sein könnten.

Doch der Reiz offenbart sich erst auf den zweiten Blick. Davor heißt es: Stundenlang und durchgehend konzentriert auf den Monitor starren. Eine leistungsfähige Software hilft den Datendetektiven, ein Dokument rasch auf relevante Fakten durchzusehen und die Fundstellen zu strukturieren. "Diese Fleißarbeit muss nicht zwingend von promovierten Juristen mit Doppel-VB, also der Note vollbefriedigend in beiden Staatsexamina erbracht werden", sagt Clas-Steffen Feuchtinger, selbst Doktor der Jurisprudenz.

Für das sogenannte First Level Review genüge ein profundes juristisches Verständnis sowie Kenntnisse in IT und Projektmanagement. Erst im zweiten Schritt werden die Fundstellen von juristisch hochqualifizierten Beratern bearbeitet. "Gute und sehr gute Examensnoten sind natürlich von Vorteil", so Feuchtinger, "maßgeblich kommt es jedoch neben dem technischen Verständnis auf Teamfähigkeit und Kreativität an, um eine optimale Entscheidungsgrundlage für die Rechtsberater zu generieren."

Für Juristen, die nächtelang LAN-Partys gefeiert und kein Top-Examen hingelegt haben, kann die Tätigkeit bei LPO eine Alternative zum Durchwurschteln in der Selbständigkeit sein. Nur ein geringer Teil der Jura-Absolventen schafft das Doppel-VB. "Früher gingen die schlechteren Absolventen in die Rechtsabteilungen der Unternehmen", sagt Leo Staub, Rechtsprofessor an der Universität St. Gallen, "aber die wollen heute auch Spitzenabsolventen."

Weil Europa vor der Industrialisierung rechtlicher Dienstleistungen stehe, verheiße das interessante Aufgaben bei den LPOs. "Wer Freude hat an Projektmanagement und Informationstechnologie, der wird hier einen spannenden Arbeitsplatz finden", sagt Staub voraus. Und einen mit Zukunft, denn bei großen Transaktionen würden die Rechtsabteilungen den Kanzleien immer häufiger empfehlen, LPOs hinzuzuziehen: "Die können die aufwendige Dokumenten- und Datensichtung preisgünstiger erbringen, womit die Kanzleien die Kosten ihrer Gesamtleistung senken können."

Ober- und Unterklasse der Juristen

Dass die Rechtsabteilungen in Unternehmen unter anhaltendem Kostendruck stehen, ist kein Geheimnis. Michael Henning, Geschäftsführer der Servicegesellschaft des Bundesverbandes der Unternehmensjuristen in Frankfurt, nennt Zahlen. "Die Aufwendungen für externe Kanzlei-Leistungen betragen bis zu 50 Prozent der Gesamtkosten. Bei internen Stundensätzen von 130 Euro und externen Honorarsätzen von durchschnittlich 320 Euro je Stunde bewegen sich die LPO-Anbieter bei unter 100 Euro je Stunde. Da muss man schon gute Argumente finden, um diese Angebote nicht intensiv zu prüfen."

Teilt sich mit den LPOs der Arbeitsmarkt für Juristen in eine Ober- und Unterklasse? Professor Staub verneint das ebenso wie Markus Hartung von der Bucerius Law School in Hamburg. "Der juristische Anwaltsmarkt ist heute schon stark ausdifferenziert", sagt Hartung, "vom Prekariat bis zum Großverdiener findet man alles." Diese Entwicklung werde sich durch die nicht-anwaltlichen Rechtsdienstleistungsanbieter fortsetzen, wenngleich für eine Tätigkeit dort heute niemand richtig ausgebildet sei.

Das findet auch Staub: "Wir Universitäten tun alle so, als ob es nur die Top-Kanzleien gäbe. LPOs aber brauchen Mitarbeiter, die etwas von Jura verstehen, Know-how im Projektmanagement mitbringen und eine Affinität zur IT haben." Bei Banken und Konzernen gibt es die ja auch.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.1999984
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 14.06.2014/kjan
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.