Latein versus Informatik:Humboldts Vermächtnis

Nachdem Bildung unter das Diktat der Nützlichkeit gestellt wurde, erleben humanistische Fächer wieder einen Aufschwung.

Hans Kratzer

In den "Lausbubengeschichten" schildert der Dichter Ludwig Thoma allerlei Räuberstückl aus seiner Knabenzeit. Alles in allem war sein kindlicher Charakter von Durchtriebenheit und Lebhaftigkeit geprägt, weshalb er nur schwer in Einklang zu bringen war mit den hehren Zielvorstellungen des humanistischen Gymnasiums. Für die Familie Thoma bedeutete dies einen jahrelangen Verdruss, und der Zögling Ludwig wurde von einer Lateinschule zur nächsten weitergeschoben. Zuletzt durfte er in Landshut doch noch zur Reifeprüfung antreten. Gleichwohl brach Thoma in seinen 1919 erschienenen "Erinnerungen" eine Lanze für die humanistische Schulbildung, obwohl er damals, wie viele seiner Zeitgenossen, längst ahnte, dass Naturwissenschaften und technischer Fortschritt die beschauliche vorindustrielle Welt fundamental verändern würden.

Zweckmäßigkeit sei nicht ausschlaggebend für die Bildung, argumentierte Thoma damals. "Immer bleibt es mir ein Gewinn, dass ich Homer in der Ursprache gelesen habe." Der Dichter war noch in einer Gesellschaft aufgewachsen, in der das humanistische Gymnasium uneingeschränkt als Inbegriff der höheren Bildung galt. Die Gelehrsamkeit ruhte auf klassischen Fächern wie Latein, Griechisch, Philosophie, Theologie und Literatur, wer etwas gelten wollte, der zitierte Platon, Cicero, Goethe und Kant. Aus deren Worten und Werken wurde das Kraftfutter der Intellektuellen zusammengemischt. Weltraum und Atomenergie, Technisierung und Globalisierung, Gentechnik und Internet - solche Weltbausteine gehörten vor hundert Jahren noch in das Reich der Utopie.

Nach dem Krieg aber begann das Weltwissen plötzlich zu wuchern. Mittlerweile verdoppelt es sich angeblich bereits alle fünf Jahre. Folgerichtig behauptete der Literaturkritiker Hellmuth Karasek neulich in einem Interview, die Wissensbeschleunigung durch das Internet habe das Wissen der Alten überflüssig gemacht. Tatsächlich wirft der rasante Übergang von der Industrie- in die Wissensgesellschaft immer drängender die Frage auf, ob der noch auf dem Wirken des alten Humboldt basierende Bildungskanon der deutschen Schulen in der sich rasant wandelnden globalen Welt überhaupt zukunftsfähig ist. Anders gefragt: Brauchen die heutigen Schüler mehr Latein oder mehr Informatik, mehr Literatur oder mehr Chemie?

Passgenau gebildet

Dass sich die Gesellschaft zumindest von der humanistischen Bildung alter Prägung weitgehend verabschiedet hat, ist selbst in Bayern nicht mehr zu leugnen. Jenes "Humanismusbollwerk", das die Bildungspolitik des Freistaats noch vor 30 Jahren unter dem Kultusminister Hans Maier war, ist sie jedenfalls nicht mehr, wie sogar der Zeit in Hamburg aufgefallen ist. In der Tat haben es Geschichte und Kultur gerade in Bayern schwer gegen die Macht der Standortnützlichkeit. Der jähe Aufstieg vom bettelarmen Agrarstaat zur boomenden High-Tech-Region hat die alten Säulen der benediktinischen und jesuitischen Bildung wie Kartenhäuser zusammenkrachen lassen, auch wenn von den 406 bayerischen Gymnasien immer noch 57 einen humanistischen und 35 einen musischen Zweig anbieten.

Die Technokraten in der Staatskanzlei sowie Industrie und Handwerk drängen vehement darauf, die schulische Bildung passgenauer den Erfordernissen des Wirtschaftsstandorts anzupassen. Unterm Strich heißt das: Bildung soll vor allem einen berufsbezogenen Zweck haben. Freilich, eine solch eng definierte Prämisse ist schon bei dem antiken Mathematiker Euklid (ca. 365-300 v. Chr.), dem Vater der Geometrie, auf Unverständnis gestoßen. Als er einem Schüler einmal seinen ersten Lehrsatz vortrug, fragte ihn dieser: "Was bringt es mir ein, wenn ich das lerne?" Euklid sagte daraufhin zum Sklaven: "Gib ihm eine halbe Drachme, da er verlangt, dass das Lernen ihm etwas einbringen soll."

Die Streitfrage, ob sich Bildung ausschließlich an der materiellen Nützlichkeit orientieren soll, ist also uralt. Damals wie heute ist jedoch ein Bedürfnis nach der klassischen humanistischen Bildung zu erkennen. Gerade die alten Sprachen Latein und Griechisch, die schon totgesagt waren, blühen plötzlich wieder auf. Die Zahl der Lateinschüler in Deutschland ist in den vergangenen vier Jahren sprunghaft angestiegen.

Humboldts Vermächtnis

Diese Entwicklung beobachtet auch Bernhard O"Connor, Schulleiter des humanistischen Hans-Carossa-Gymnasiums in Landshut. "Wir spüren einen deutlichen Aufwind, gerade bei bei den Anmeldungen jener Schüler, die den Ausbildungsweg mit Latein und Griechisch beschreiten wollen." Vermutlich steckt dahinter die Ahnung, dass Bildung weit mehr bedeutet als nur die Befähigung zu einem Brotberuf. "Sie verschafft dem Menschen einen Horizont, der ihm erlaubt, etwas mit seinem Leben anzufangen", sagt Wilfried Stroh, Professor für lateinische Philologie in München. Gerade die alten Sprachen hätten deshalb eine bleibende kulturelle Bedeutung, sie ermöglichten die Beschäftigung mit den geistigen Wurzeln der europäischen Kultur, sie öffneten den Zugang zu den Zeugnissen der Religion und der Geschichte. Dass diese Wirkung weit in die Naturwissenschaften hineinreicht, bestätigte einst der Nobelpreisträger Werner Heisenberg mit jenem Bonmot, er habe den Grundgedanken der Atomphysik erstmals bei der Lektüre von Platons Spätwerk "Timaios" verstanden.

Generation ohne kulturelle Tradition

Trotzdem ist in Bayern deutlich zu beobachten, dass die geisteswissenschaftlichen Disziplinen an den Universitäten und Schulen einen schweren Stand haben. Der Freistaat, der sich in der eigenen Verfassung als Kulturstaat definiert, der seine 1500-jährige staatliche Kontinuität bejubelt, kappt peu à peu Lehrstühle und Bildungsinhalte, die eine unverzichtbare Basis für die Beschäftigung mit der eigenen Kultur und Geschichte bilden.

Landesgeschichte findet an bayerischen Gymnasien nicht statt. Stattdessen wird hinter den Kulissen der Kultusbürokratie heftig darum gerungen, Fächer wie Geschichte und Sozialkunde zu kürzen und dafür das Angebot an naturwissenschaftlichen Fächern auszuweiten. Als bei der letzten Nachjustierung der Lehrpläne die Fächer Informatik sowie Natur und Technik neu aufgenommen wurden, blieb durch Stundenverschiebungen das traditionelle Gleichgewicht zumindest gewahrt. Gerne gekürzt werden allerdings die weichen Fächer Sport, Musik und Kunst. Und das in einer Zeit, in der viele Kinder übergewichtig sind, motorische Probleme haben und kein Körpergefühl entwickeln.

Erziehungswissenschaftler warnen seit Jahren, dass bald eine Generation ohne kulturelle Tradition heranwachse, wenn die Bildungspolitik die musischen und künstlerischen Fächer nicht stärke. Es wird eine Generation sein, die keinen Baustil und kein Kunstwerk mehr bestimmen kann und auf die klassische Musik pfeift.

Herz und Charakter

Der ehemalige Kultusminister Hans Maier hält die Beibehaltung der fünf Säulen der Allgemeinbildung, nämlich Muttersprache, Fremdsprache, Mathematik und Naturwissenschaften sowie Geschichte für richtig. "Einem Schüler nützt alles, was ihn befähigt, sich in der Welt zurechtzufinden", sagt Maier. Dabei sei Shakespeare genauso wichtig wie Wirtschaftsenglisch. "Denn Letzteres ist nicht zu verstehen, wenn man die Möglichkeiten des Englischen nicht ausgelotet hat. Man muss eine Sprache erlebt haben in der gesteigerten Möglichkeit des Ausdrucks, dann erst kann ich heruntersteigen auf die technische Ebene."

Ähnlich argumentiert auch der Verband der bayerischen Wirtschaft, der in seinem Bildungskatalog fordert, ein Schüler müsse fähig sein zum selbständigen Wissenserwerb und die Techniken der Informationsbeschaffung beherrschen. Ebenso soll er sich soziale Kompetenzen wie Kooperationsfähigkeit, Durchhaltevermögen, Leistungsbereitschaft und Verantwortungsbereitschaft aneignen, wie sie auch im Artikel 131 der Bayerischen Verfassung beschrieben werden. "Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden."

Dies und die Stärkung von Sekundärtugenden wie Genauigkeit, Sorgfalt, Ausdauer und analytisches Denken wird seit jeher am ehesten den klassischen humanistischen Fächern zugetraut. Gerade hier aber stößt man unvermittelt an einen Punkt, der drastisch die Grenzen einer jeden noch so gut gemeinten Bildung aufzeigt. Selbst die hochgepriesene humanistische Erziehung konnte nicht verhindern, dass Heinrich Himmler, Schüler der humanistischen Gymnasien in München und Landshut, zum Massenmörder und Schlächter wurde, und sie verhinderte ebenso wenig, dass Ludwig Thoma, Schüler mehrerer humanistischer Gymnasien in Bayern und der Pfalz, im Miesbacher Anzeiger die übelsten rassistischen Leitartikel schrieb.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: