Süddeutsche Zeitung

Künstliche Intelligenz:Neue deutsche Welle

Selbststeuernde Systeme sollen bald alle Lebensbereiche revolutionieren. Entsprechend gut sind die beruflichen Aussichten für Entwickler.

Von joachim becker

Roboter in den Vorstand berufen: Eine Venture-Capital-Firma in Hongkong hat 2014 einen Algorithmus namens Vital zum Vordenker gemacht. Nichts wird gegen die Einsichten der lernfähigen Maschine entschieden. Ein kurioser Einzelfall - oder ein zentraler Zukunftstrend? Laut der internationalen Research- und Beratungsfirma Tabb Group sollen computergestützte Investmentprozesse an der US-Börse mittlerweile in der Mehrheit sein: Erstmals in der Geschichte entfällt auf intelligente Rechner der größte Teil des Aktienhandels.

In den Fabriken sind Roboter schon lange nicht mehr wegzudenken. Deutschland ist in dieser Hinsicht das am dichtesten besiedelte Land der Welt: Auf 10 000 Mitarbeiter in der Automobilproduktion kommen 1200 der beweglichen Arbeitsmaschinen. Ausbauen lässt sich dieser Technologievorsprung, wenn die Apparate anfangen selbständig zu lernen: künstliche Intelligenz statt fester Programm-Codes. Auch auf diesem Feld ist Deutschland Spitze.

Seit 60 Jahren arbeiten Informatiker an denkenden Maschinen. Längst ist es nichts Ungewöhnliches mehr, dass sie regelbasierte Spiele wie Schach oder Go gewinnen. Jüngst hat ein Supercomputer auch eine Reihe von Poker-Experten geschlagen. "Das ist deshalb interessant, weil die Informationen beim Poker unvollständig sind und die Maschine nicht weiß, welche Karten die Gegner haben", sagt Wolfgang Wahlster. Der Professor für Informatik ist eine internationale Koryphäe. 1988 war er einer der Gründer des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI). Unter seiner Leitung hat sich das Zentrum mit Standorten in Saarbrücken, Kaiserslautern, Bremen und Berlin zur weltweit größten Einrichtung auf diesem Gebiet entwickelt. Gemessen an seinen Forschungsgeldern und den rund 800 Wissenschaftlern ist das DFKI das weltweit größte Zentrum für künstliche Intelligenz und deren Anwendungen.

"Ich bin jetzt schon fast 40 Jahre in der Forschung zur künstlichen Intelligenz. Früher war ich viel an der US-Universität Berkeley. Heute ist es umgekehrt, heute kommen die Amerikaner zu uns", sagt Wahlster und fügt hinzu: "Wir haben also eine tolle Position in Deutschland bei dieser Zukunftstechnologie. Das wissen nur nicht allzu viele Menschen."

Allein in Deutschland könnten durch künstliche Intelligenz 21 Milliarden Euro zusätzliche Wertschöpfung generiert werden, heißt es in einer Studie der Technologieberatung Accenture. Dabei handelt es sich nicht um Brett- oder Kartenspiele, sondern um die nächste Welle der Digitalisierung. "Bei der ersten Welle ging es erst einmal darum, Daten digital zu erfassen und weiterzuverarbeiten", erklärt Wahlster. Man habe Heerscharen von Programmierern gebraucht, um entsprechende Algorithmen zu schreiben und ständig zu aktualisieren. "Jetzt können Maschinen diese Daten nicht nur speichern oder übertragen, sondern inhaltlich verstehen."

Wahlster beschreibt die zweite Digitalisierungswelle als einen Tsunami. Mit der Wucht einer Naturgewalt würden sich die Entwicklungen um den Faktor hundert beschleunigen. Das hat drei Gründe: Erstens ist die Leistung von Halbleitern enorm gestiegen. Rechenzentren, die früher eine große Wohnung füllten, passen heute auf einen Fingernagel. Zweitens sind enorme Mengen an Daten durch das Internet und die Cloud jederzeit global verfügbar.

Daraus ergibt sich eine ideale Lernumgebung für neuronale Netzwerke, die mittlerweile bis zu tausend Abstraktionsstufen parallel rechnen können. Statt der starren Logik einer Software zu folgen, vernetzen sich die neuronalen Netzwerke selbst. So wie das menschliche Gehirn, das in der Regel aber nicht einmal zehn Schritte voraus denkt. Mit solchen Supercomputern und schnell verfügbaren, großen Datenmengen lassen sich neue Geschäftsideen nun schneller monetarisieren.

Professor Wolfgang Wahlster

"Wir kommen vom Zeitalter der maschinenlesbaren Daten zum Zeitalter der maschinenverstehbaren Daten."

"Wir kommen also vom Zeitalter der maschinenlesbaren Daten zum Zeitalter der maschinenverstehbaren Daten", sagt Wahlster. "Das hat Auswirkungen auf jeden Wirtschaftszweig und auf jeden einzelnen Arbeitsplatz." Intelligente Softwaresysteme anstelle von Sachbearbeitern - es gebe keine Bank, die so etwas nicht bereits ausprobiere, meint der Professor.

Im Fokus stehen nicht nur Computer-Stimmen oder Chat-Bots. Roboter werden auch außerhalb von Fabriken immer universeller einsetzbar. Spätestens in zehn Jahren würden Menschen in Form von Sprache, Gesten und Mimik mit Maschinen interagieren, ist sich der 64-jährige Informatikprofessor sicher. Computer-Tastaturen und die Maus als Eingabemedien haben dann ausgedient. Weil Menschen mit allen Sinnen mit den autonomen Systemen in Kontakt treten könnten, seien Roboter schon bald auch im Service und bei der Altenpflege einsetzbar.

Längst arbeiten nicht nur Informatiker an dem Thema. Auch die Ingenieurwissenschaften entwickeln immer bessere mechatronische Systeme. Verhaltens- und Hirnforscher sowie Linguisten und Sprachwissenschaftler versuchen die natürlichsprachliche Verständigung mit den Maschinen voranzutreiben. Zudem gelte es, eine Reihe von philosophischen Fragen zu klären, wenn solche Systeme künftig autonom Entscheidungen treffen. Nicht nur als Algorithmus-Vorstand einer Firma wie in Hongkong, sondern zum Beispiel auch als selbststeuernde Drohnen oder als autonome Autos auf der Straße.

Die führenden IT-Hersteller arbeiten ohnehin an künstlicher Intelligenz. Erste Geschäftsmodelle wie die natürlichsprachlichen Assistenten Google Home, Amazon Alexa oder Microsoft Cortana kommen bei den Kunden sehr gut an. Die Nachfrage ist so hoch, dass jetzt auch Facebook und viele andere Firmen intelligente Systeme entwickeln. Selbst die traditionellen Automobilzulieferer wollen mit künstlichen Superhirnen künftig das ganz große Geschäft machen. Bosch, Continental, Delphi und ZF beschäftigen schon heute Zehntausende Software-Spezialisten. Momentan bauen sie ihre Kompetenzen bei KI stark aus. Goldene Zeiten für Mathematiker, IT-Spezialisten und Elektrotechnik-Ingenieure - gerade in Deutschland.

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SZ vom 08.07.2017
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