Kruzifixe in Klassenzimmern:Mehr als nur Privatsache

Erneut verhandelt der Europäische Gerichtshof darüber, ob in staatlichen Schulen Kreuze hängen dürfen. Was geht vor: die Rechte des Einzelnen oder die kollektive Identität?

Wolfgang Janisch

Man kann die Bedeutung der Sache schon am Zeitfaktor ablesen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ist notorisch überlastet. Und doch benötigte er gerade einmal acht Monate, um sein umstrittenes Urteil, wonach Kruzifixe in italienischen Klassenzimmern gegen die Menschenrechtskonvention verstoßen, in einer Anhörung einer neuerlichen Überprüfung durch die Große Kammer zu unterziehen. Das ist jener aus 17 Richtern bestehender Spruchkörper, der nur bei wichtigen Grundsatzfragen zum Zug kommt. In diesem Fall lautet sie: Wie religiös darf der Staat eigentlich sein?

Pofalla fuer christliche Symbole im oeffentlichen Raum

Darf in staatlichen Schulen ein Kruzfix hängen? Das hat jetzt erneut der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu entscheiden.

(Foto: ddp)

Gar nicht - so jedenfalls lautet die Antwort der Anwälte Nicola und Natalia Paoletti, sie vertraten die Klägerin Soile Lautsi in Straßburg. Der Staat sei säkular, es gelte also die strikte Trennung von Staat und Religion. Mithin habe das Kruzifix in den Klassenzimmern staatlicher Schulen nichts zu suchen; übrigens seien es die Faschisten gewesen, die 1922 die Kreuze wieder in den Schulen aufgehängt hätten.

Die Neutralität des Staates in Religionsfragen sei ein fundamentales Prinzip auch des italienischen Staates, argumentierten die Anwälte: Vor neun Jahren habe das italienische Verfassungsgericht die Kruzifixe deshalb auch aus seinen eigenen Gerichtsräumen entfernt. Umso mehr müsse dieses Prinzip in einem derart sensiblen Ambiente wie der Schule Geltung beanspruchen. Elf und 13 Jahre alt waren Lautsis Kinder, als der Rechtsstreit im Schuljahr 2001/2002 im italienischen Abano Terme seinen Anfang nahm, damals hätten sie den täglichen Konflikt zwischen der säkularen Erziehung zu Hause und den religiösen Anmutungen der Schule aushalten müssen.

Bis zu diesem Punkt folgten die Argumente dem konventionellen Muster, das man aus dem Streit um den Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1995 kennt. Mit dem Unterschied, dass die Anwälte offen ließen, welchem Glauben (oder Nichtglauben) ihre Mandantin anhängt - sie sei eben säkular eingestellt. Mag sein, dass sie ob der Vehemenz der Kritik eingeschüchtert ist. Der Vertreter der italienischen Regierung brandmarkte sie jedenfalls wiederholt als "militante Atheistin".

"Privatsache für private Orte"?

Es war der New Yorker Professor Joseph Weiler, der schließlich das Feld der Scharmützel verließ. Er vertrat eine ganze Reihe von Staaten des Europarats, für die der Straßburger Spruch ebenfalls Geltung haben wird. Das eigentliche Spannungsverhältnis, das der Gerichtshof zu lösen habe, sei jenes zwischen individuellen Rechten und kollektiver Identität. Der Einzelne müsse europaweit selbstverständlich seine Religionsfreiheit durchsetzen können. Wenn dies aber zur Folge hätte, dass in allen 47 Staaten des Europarats nur streng laizistische Systeme nach französischem Vorbild erlaubt wären, "dann wäre Religion nur noch eine Privatsache für private Orte".

Überall kirchliche Symbole

Nach Weilers Worten ist aber mehr als die Hälfte der europäischen Länder gerade nicht laizistisch organisiert, sondern von einer gewissen Nähe zwischen Staat und Kirche geprägt, wie etwa Dänemark oder Griechenland. In England sei die Königin Oberhaupt der anglikanischen Kirche, auf der Flagge prange das Kreuz, und in der Nationalhymne werde Gott angerufen, die Königin zu schützen. Man könne nicht in Abrede stellen, dass dies auch eine öffentliche Darstellung religiöser Symbole sei. "Müssen wir also sagen: Bitte entfernen sie die Fotos der Königin aus den Klassenzimmern?"

Für Weiler wäre die Entscheidung gegen die Kruzifixe mithin nicht ein Votum für die Neutralität des Staates, sondern eine Parteinahme für eines von zwei möglichen Systemen - den Laizismus. Der Professor erläuterte dies am Beispiel der fiktiven Freunde Marco und Leonardo, der eine kennt sein Elternhaus nur mit Kruzifixen, der andere ohne. Wenn die beiden - im Disput darüber, was nun richtig sei - sich am Vorbild der Schule orientierten: Wäre dann ein Klassenzimmer ohne Kruzifixe etwa "neutral"? Die Entscheidung für oder gegen den Laizismus obliege den Staaten selbst, nicht aber einem europäischen Gericht.

So entführte Weiler den Fall auf die hohe Ebene der Grundsätzlichkeit. Der Richter Nicolas Bratza indes schien eher auf der Suche nach einem pragmatischen Ausweg: Er fragte, ob den einzelnen Schulen denn nicht ein gewisser Spielraum zur Lösung solcher Konflikte zukomme. Das Urteil wird in einigen Monaten erwartet.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: