Man kann die Bedeutung der Sache schon am Zeitfaktor ablesen: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg ist notorisch überlastet. Und doch benötigte er gerade einmal acht Monate, um sein umstrittenes Urteil, wonach Kruzifixe in italienischen Klassenzimmern gegen die Menschenrechtskonvention verstoßen, in einer Anhörung einer neuerlichen Überprüfung durch die Große Kammer zu unterziehen. Das ist jener aus 17 Richtern bestehender Spruchkörper, der nur bei wichtigen Grundsatzfragen zum Zug kommt. In diesem Fall lautet sie: Wie religiös darf der Staat eigentlich sein?
Darf in staatlichen Schulen ein Kruzfix hängen? Das hat jetzt erneut der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu entscheiden.
(Foto: ddp)Gar nicht - so jedenfalls lautet die Antwort der Anwälte Nicola und Natalia Paoletti, sie vertraten die Klägerin Soile Lautsi in Straßburg. Der Staat sei säkular, es gelte also die strikte Trennung von Staat und Religion. Mithin habe das Kruzifix in den Klassenzimmern staatlicher Schulen nichts zu suchen; übrigens seien es die Faschisten gewesen, die 1922 die Kreuze wieder in den Schulen aufgehängt hätten.
Die Neutralität des Staates in Religionsfragen sei ein fundamentales Prinzip auch des italienischen Staates, argumentierten die Anwälte: Vor neun Jahren habe das italienische Verfassungsgericht die Kruzifixe deshalb auch aus seinen eigenen Gerichtsräumen entfernt. Umso mehr müsse dieses Prinzip in einem derart sensiblen Ambiente wie der Schule Geltung beanspruchen. Elf und 13 Jahre alt waren Lautsis Kinder, als der Rechtsstreit im Schuljahr 2001/2002 im italienischen Abano Terme seinen Anfang nahm, damals hätten sie den täglichen Konflikt zwischen der säkularen Erziehung zu Hause und den religiösen Anmutungen der Schule aushalten müssen.
Bis zu diesem Punkt folgten die Argumente dem konventionellen Muster, das man aus dem Streit um den Kruzifix-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1995 kennt. Mit dem Unterschied, dass die Anwälte offen ließen, welchem Glauben (oder Nichtglauben) ihre Mandantin anhängt - sie sei eben säkular eingestellt. Mag sein, dass sie ob der Vehemenz der Kritik eingeschüchtert ist. Der Vertreter der italienischen Regierung brandmarkte sie jedenfalls wiederholt als "militante Atheistin".