Krise der Hauptschule:Rettungsversuche bei einem Todkranken

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Die Hauptschule ist zur Restschule geworden, in der Kinder aus bildungsarmen Schichten landen. Die Union will den Schultyp dennoch retten - sie weiß nur nicht, wie.

Tanjev Schultz

In Nordrhein-Westfalen bekennt sich Kultusministerin Barbara Sommer (CDU) in regelmäßigen Abständen zur Hauptschule. Das Ministerium "steht zu den Hauptschulen", ließ sie gerade erst wieder mitteilen. Das klang so, als würde sich jemand zu seiner Zahnlücke oder einer Halbglatze bekennen.

Unterricht in der Hauptschule: Bildungspolitiker erfinden neue Namen für die Schulform, etwa "Werkrealschule". (Foto: Foto: ap)

In den großen westdeutschen Flächenländern will die Union die Hauptschulen, deren Ansehen seit langem in der Krise ist, nicht einfach aufgeben. Doch sie gerät dabei immer mehr in die Defensive, manche Minister wollen schon gar nicht mehr von Hauptschulen sprechen und erfinden neue Namen wie "Werkrealschule" (Baden-Württemberg) oder "Mittelschule" (Bayern).

Schlechtes Lernmilieu, fatales Image

In etlichen Bundesländern gibt es bereits keine eigenständigen Hauptschulen mehr: In Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Berlin fusionieren sie mit den Realschulen, in Ostdeutschland sind sie ohnehin unbekannt. Seit Beginn des Jahrzehnts ist die Zahl der Hauptschüler bundesweit um mehr als 20 Prozent gesunken. Die geburtenschwachen Jahrgänge verstärken den Trend, und viele Eltern tun alles, um ihr Kind vor der Hauptschule zu bewahren. In Großstädten bleiben für die Hauptschule oft nur die schwierigsten Schüler übrig. Das ist nicht nur fatal für das Image, es beeinträchtigt auch massiv das Lernmilieu.

Studien des Berliner Bildungsforschers Jürgen Baumert und seines Teams am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zeigen, dass keine andere Schulform in ihren Leistungen so stark von der Zusammensetzung der Schüler beeinflusst wird wie die Hauptschule. Wenn zurückgestufte Schüler und Kinder aus bildungsarmen Elternhäusern die Klassen dominieren, setzt schnell eine Spirale des Scheiterns ein, gegen die auch beherzte Pädagogen machtlos sind.

An den Rand gedrängt

Paul Kaestner, Beamter im preußischen Kultusministerium, schrieb in den zwanziger Jahren, es sei die Aufgabe der Zukunft, die Volksschulen "aus ihrer Isolierung als Elementar- und Armenschule zu befreien". Gelungen ist das bis heute nicht. Durch die Bildungsexpansion und den Ansturm auf Gymnasien sind die Hauptschulen und ihre Schüler noch stärker an den Rand gedrängt worden. In Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein hat deshalb auch die CDU Reformen mitgetragen, die die Hauptschule als eigenständige Schulart auflösen.

In den großen Flächenländern plagt sich die Union mit Rettungsversuchen. In Nordrhein-Westfalen wird es im kommenden Schuljahr 18 "Verbundschulen" geben - dort arbeiten Haupt- undealschulen zusammen. In Niedersachsen hat bereits die Hälfte der Haupt- und Realschulen eine gemeinsame Leitung. Außerdem sollen Hauptschulen intensiv mit Betrieben und Berufsschulen kooperieren. In Baden-Württemberg sollen Hauptschulen künftig unter dem Etikett "Werkrealschule" laufen und den Jugendlichen auch mittlere Abschlüsse ausstellen können.

Auf der nächsten Seite: Warum sich die Begeisterung der Lehrer dennoch in Grenzen hält.

Fluchtversuch aus dem staatlichen System

Die Begeisterung vieler Lehrer hält sich dennoch in Grenzen, sie halten die Reformen für halbherzig. In ländlichen Regionen haben es die Schulen schwer, überhaupt genügend Schüler zusammen zubekommen. In Mulfingen, einem kleinen Ort im Hohenlohekreis, will Rektor Dietmar Ristl deshalb seine Hauptschule in eine private, von der Kommune unterstützte Realschule umwandeln, die ein eigenes reformpädagogisches Konzept verfolgt. Der Bürgermeister steht hinter dem Projekt, und die Zahl der Anmeldungen ist prompt in die Höhe geschossen - aber noch ist unklar, ob und in welcher Form der Fluchtversuch aus dem staatlichen, noch immer streng gegliederten System gelingt.

Wenn die Hauptschule als eigenständige Schulart vielerorts am Ende ist, bedeutet dies allerdings nicht automatisch ein Ende für den Hauptschulabschluss. Denn ihn vergeben auch andere Schulformen wie Gesamtschulen oder die Mittelschule in Sachsen, auch wenn immer mehr Betriebe Wert auf höhere Abschlüsse legen. In Krisenzeiten haben es Absolventen mit einem Hauptschulabschluss besonders schwer, einen Ausbildungsplatz zu finden.

Der Bundestag hat ihnen gerade ein neues Tor geöffnet: Eine Ausbildung zu Pflegeberufen, die zuvor mindestens die mittlere Reife verlangten, ist künftig auch für Hauptschüler möglich. Experten haben das scharf kritisiert: Es sei unverantwortlich, das Niveau für die Ausbildung zu senken. Eine Sprecherin des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe befürchtet, dass sich nun kaum noch Realschüler bewerben werden. Gemeinsam mit Hauptschülern eine Ausbildung zu absolvieren - davor würden viele zurückschrecken.

© SZ vom 27.7.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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