Kommentar:Vergesst Pisa!

Rang eins! Rang vier! Rang fünf! Die Schulstudie ist in Deutschland zu einem nationalen Fetisch geworden. Mit Bildung hat das nichts zu tun.

Von Thomas Steinfeld

Der Kultusminister konnte sich vor Stolz kaum fassen. "Das ist ein großartiger Erfolg der bayerischen Schulen", teilte Siegfried Schneider den Medien mit, nachdem bekannt geworden war, dass die Schulen seines Bundeslandes im Vergleich mit denen der anderen Bundesländer die besten Ergebnisse erzielt hatten. Und auch international könnten sich die Resultate sehen lassen: Rang vier in den Naturwissenschaften! Rang fünf in der Mathematik! Rang sechs im Lesen! Besser als Hessen, fast so gut wie die Niederlande!

Schüler, Pisa, Schule

Oben eine "Champions League", unten alles Kreisklasse? Schüler im Pisa-Stress.

(Foto: Foto: dpa)

Nur - was bedeutet das alles? Dass Bayerns Kultusminister jetzt auf seine fünfzehn Kollegen aus den anderen Bundesländern hinabschauen darf? Dass die bayerischen Schulen sich jetzt vornehmen, demnächst sogar auf jene in Finnland und Südkorea hinabzublicken? Was ist das für ein absurder Ehrgeiz, was ist das für ein aberwitziges Strebertum, unbedingt auf die ersten Ränge vorrücken zu wollen - so als stünde das Heil der ganzen Nation auf dem Spiel, als wäre davon das Ende der Arbeitslosigkeit, die Wiedergewinnung der Konsumfreude und die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Industrie zu erhoffen?

Zu einem nationalen Fetisch ist die vergleichende "Bildungsstudie" namens Pisa geworden - in Deutschland und nur in Deutschland. Denn offenbar gibt es nur hierzulande den vor Aufregung zappelnden, ungezogenen, weil rücksichtslosen Ehrgeiz, den es braucht, um wie der bayerische Kultusminister von einer "Champions League" der Bildung zu sprechen.

"Bildung" ist ein Wort, dessen große Laufbahn im 18. Jahrhundert begann, in dem Augenblick, in dem die Aufklärung das Kind entdeckte. Und Bildung war vieles, die physische Gestalt, die körperliche Ertüchtigung, die grundlegenden Kulturtechniken und das Wissen von dem, was frühere Generationen gedacht, gemacht und gewollt hatten. Kein Zufall ist es, wenn das 18. Jahrhundert die Bildung des Menschen gern mit dem Wachstum der Pflanzen verglich - von unten hinauf sollte es gehen. Damit es einmal zu einem ebenso tauglichen wie glücklichen Menschen werde, sollte das Kind sich entfalten, und die persönliche Entfaltung, so war es gedacht, müsse den Anforderungen der Gesellschaft entsprechen, in einer genau ausgewogenen Balance.

Verlierer in großer Zahl

Wenn in Gestalt von Pisa über Bildung nachgedacht wird, ist von dieser Balance nichts übrig geblieben. Denn die Kriterien, die diesem Begriff von Bildung zugrunde liegen, sind nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten gedacht. Ganz oben steht die "Eliteuniversität", und das heißt: Die Versorgung der Nation und ihrer Wirtschaft mit intellektuellen Techniken und Fähigkeiten, über die am besten kein anderes Land der Welt in solchem Maße und in solcher Qualität verfügt. Dann kommen die Gymnasiasten, dann die Grundschüler, dann die Kleinen im Kindergarten.

Anders gesagt: Wenn "das System in Bewegung gekommen" sein soll, wie jetzt Doris Ahnen meint, die Kultusministerin von Rheinland-Pfalz, dann vor allem deshalb, weil nach den jüngsten Ergebnissen mehr Verwertung, mehr Elite, mehr volkswirtschaftlicher Ertrag in Aussicht zu stehen scheinen.

Ob das tatsächlich so sein wird, ist aber sehr fraglich. Mit gutem Grund kritisiert in der Wirtschaftswoche Andreas Schleicher, der Verantwortliche für die internationale Pisa-Studie, bei den deutschen Bildungsreformen seien "nur neue Normierungssysteme für Schulleistungen und Lehrpläne in neuem Gewand herausgekommen". Vor allem fehle es den Schulen an Freiraum - kein Wunder, wenn es immerfort nicht um Bildung, sondern um prüf- und verwertbare Kenntnisse gehen soll. Und er erinnert daran, dass das extrem selektive Schulsystem in Deutschland nicht nur potenzielle Leistungsträger, sondern Verlierer in großer Zahl produziert: Schüler, die sich schon als Vierzehnjährige keine Hoffnung mehr machen können, je im Leben auch nur einen Zipfel von Wohlstand zu erhaschen.

Hatten die Ergebnisse der ersten Studie nicht auf erschreckende Weise belegt, dass es deutschen Schülern nicht nur an Bildung, sondern vor allem an elementaren Kulturtechniken mangelt, an zuverlässigen Kenntnissen im Lesen, Schreiben und Rechnen? Wenn es aber schon an der Rechtschreibung und am Lesevermögen fehlt, kann man auf die Gründung von Eliteuniversitäten verzichten.

Oder ist die Idee von der Elite gar andersherum gemeint - in dem Sinne, dass, wenn man nur eine Elite hat, die kulturellen Fertigkeiten der restlichen Gesellschaft eine ziemlich gleichgültige Angelegenheit sind? Oben eine "Champions League", unten alles Kreisklasse?

Von unten nach oben, von vorne nach hinten führt der Weg. Er beginnt in der Schule, und zwar sehr, sehr früh. Und wenn die Schule ihre Aufgabe erfüllen soll, dann braucht sie nicht nur gute Lehrer, sondern auch eine Betreuung am Nachmittag, nicht nur kleine Klassen, sondern auch Raum und Zeit für die individuelle Hilfe wie für den Enthusiasmus, nicht nur Geld, sondern auch Freude. Wenn das erreicht ist, muss von Pisa keiner mehr reden.

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