Koedukation:Die Lücke zwischen den Geschlechtern

Mädchen sind schwach in Mathe. Experten streiten: Liegt es daran, dass sie gemeinsam mit Jungen lernen - und sollte Schule wieder die Geschlechter trennen?

A.-E. Ustorf

Konzentriertes Schweigen in einem Klassenraum im Süden Hamburgs. Die 17 Jahre alte Lena sitzt vorm Bildschirm und programmiert eine Datenbank für ein fiktives Reisebüro. Ihre Tischnachbarin Isa arbeitet an einer komplizierten Tabellenkalkulation. Beide Schülerinnen haben das Fach Informatik belegt und üben sich jetzt dreimal pro Woche in der Erstellung von Webseiten, Datenbanken und Programmen, gemeinsam mit zwölf Klassenkameradinnen. Jungen sind keine dabei - der Informatik-Unterricht in der elften Klasse findet strikt nach Geschlechtern getrennt statt.

Der Grund: In Informatik zeichnet sich mehr als in allen anderen Fächern ein deutliches Leistungsgefälle zwischen Jungen und Mädchen ab. Mit Hilfe des getrennten Unterrichts sollen die Mädchen am Rechner mehr Selbstvertrauen erlangen. Lena findet, das sei eine gute Idee. "Die Jungs sind in der Regel viel computeraffiner als wir", sagt sie. "Deshalb sind getrennte Kurse meiner Meinung nach sinnvoll. So kann ich entspannter lernen. In einem gemischten Kurs hätte ich wahrscheinlich das Gefühl, ständig hinterherzuhinken."

Unbewusste Benachteiligung

Ihre Freundin Isa ist etwas skeptischer. "Ein bisschen behindert komme ich mir hier schon vor, ich kenne schließlich auch eine Menge Jungs, die nicht besonders fit am Rechner sind", gibt sie zu bedenken. "Aber andererseits ist es mal ganz nett, nur mit Mädchen in einer Klasse zu sitzen."

Lernen Mädchen Informatik oder Mathe besser ohne Jungen? Und würden Jungen in "Mädchenfächern" von monoedukativem Unterricht profitieren? Oder wirkt sich die Geschlechtertrennung vielmehr diskriminierend aus? Die Debatte um die Vor- und Nachteile getrennten Unterrichts ist beinahe so alt wie die Geschichte der Schulbildung in der Bundesrepublik.

Bis in die sechziger Jahre gab es in Deutschland fast nur monoedukativen Unterricht an reinen Mädchen- und Jungenschulen, wobei Mädchenschulen oftmals als minderwertig und schlechter ausgestattet galten. Erst gegen Ende der sechziger Jahre wurde im Rahmen der Koedukationsdebatte ein vorwiegend gemeinsamer Unterricht gefordert und umgesetzt. Doch in den achtziger Jahren wurde auch daran die erste Kritik laut: Mädchen würden im gemischten Unterricht unbewusst benachteiligt, hieß es, die Lehrer müssten geschlechtersensibler arbeiten.

Mehr Entfaltungsmöglichkeiten

Die Debatte wurde weiter angeheizt durch die Erkenntnis, dass junge Frauen, die in Deutschland ein naturwissenschaftliches oder technisches Studium aufnahmen, überwiegend von Mädchenschulen kamen. Man überlegte, in den Naturwissenschaften zur Monoedukation zurückzukehren, um den Mädchen beim Lernen mehr Entfaltungsmöglichkeiten einzuräumen.

Heute allerdings ist man vom getrennten Unterricht weitgehend abgerückt. Viele Bildungsexperten bezweifeln, dass die Monoedukation zu besseren Ergebnissen führt. Hannelore Faulstich-Wieland, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Hamburg, glaubt gar, dass getrennter Unterricht die Geschlechterunterschiede noch verstärkt. "Wer sagt, Jungs liegt Mathematik eher als Mädchen, der dramatisiert die Bedeutung des Geschlechts und sorgt dafür, dass das Geschlecht ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal ist", sagt die Professorin. "Man sollte es aber entdramatisieren und sehen, dass einige Menschen eher textlich lernen und andere bildlich. Der Unterschied ist nicht ans biologische Geschlecht gebunden."

Auf der nächsten Seite: Warum können Mädchen besser rechnen, aber schlechter lesen als Jungen? Ist die Schuld in den Hirnfunktionen oder gar den hormonellen Steuerungen beider Geschlechter zu suchen?

Leistungslücke zwischen den Geschlechtern

Gängige Mann-Frau-Klischees

Fakt ist dennoch: Während der Schulzeit wächst die Leistungslücke zwischen den Geschlechtern - und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in nahezu allen Industriestaaten. Eine neue Sonderauswertung der Pisa-Daten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigte jüngst, dass 15-jährige Mädchen beim Lösen mathematischer Aufgaben deutlich hinter den Jungen zurückliegen und gleichaltrige Jungen hingegen schlechter lesen als gleichaltrige Mädchen. Im zarten Alter von zehn Jahren hingegen sind die Unterschiede noch kaum sichtbar.

Woran liegt das? Ist die Schuld etwa in den unterschiedlichen Hirnfunktionen von Männern und Frauen oder gar den hormonellen Steuerungen beider Geschlechter zu suchen? Ganz und gar nicht, schreiben die Autoren der Pisa-Auswertung, vielmehr seien die Ursachen in gängigen Mann-Frau-Klischees und Vorurteilen zu finden. Es habe sich gezeigt, dass Mädchen über zu wenig Selbstvertrauen in ihre mathematischen Fähigkeiten verfügten und Jungen zum Lesen nicht genug ermutigt würden. In anderen Worten: Die Mär, dass Jungen besser rechnen und Mädchen besser lesen, sei eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

Geschlechtersensibler Unterricht

Auch die Monoedukation helfe da nicht weiter, glauben die Autoren: "Unsere Ergebnisse stützen nicht die Annahme, dass Mädchen in einer eingeschlechtlichen Umgebung besser abschneiden würden." Bundesbildungsministerin Annette Schavan reagierte bestürzt auf die Pisa-Auswertung und forderte: "Geschlechterklischees müssen überwunden werden, weil sie Kinder und Jugendliche in ihrer Entfaltung behindern - und zwar nicht nur in den Schulen, sondern vor allem auch in den Familien und in der Gesellschaft."

An deutschen Schulen geht der Trend mittlerweile zur "reflexiven Koedukation", dem geschlechtersensiblen Unterricht. Statt Buben und Mädchen konsequent zu trennen, wird an vielen Schulen nun verstärkt auf die konkreten Bedürfnisse beider Geschlechter geachtet. Das Ziel: die Veränderung der Geschlechterverhältnisse zugunsten eines gleichberechtigten Zusammenlebens. Mädchen und Jungen sollen gleichermaßen spezifisch gefördert werden, in dem Bewusstsein, dass sie unterschiedliche Erfahrungen, Verhaltensweisen und Einstellungen mitbringen.

Arbeit an den Soft Skills

In der Praxis sieht das dann so aus: Im Deutschunterricht werden Jungenbücher ebenso wie Mädchenliteratur gelesen, in den naturwissenschaftlichen Fächer unterrichten mehr Lehrerinnen, und in Schulungen werden die Pädagogen für Jungen- und Mädchenarbeit sensibilisiert. Nur phasenweise wird geschlechterhomogen, das heißt mit Jungen- oder Mädchengruppen gearbeitet.

Ein wesentlicher Bestandteil der reflexiven Koedukation ist vor allem die Arbeit an den Soft Skills der Kinder: Mädchen sollen lernen, selbstbewusster zu werden, Jungen sollen ihre Fähigkeiten realistischer einschätzen und Konflikte gewaltfreier lösen lernen.

Ganz alleine werden es die Lehrer wohl aber nicht schaffen, die geschlechtsstereotypen Rollenzuweisungen ihrer Schülerinnen und Schüler aufzulösen. Auch - und vor allem - die Eltern müssen bei diesem Prozess mitziehen. Schließlich steht für die Zukunft ihrer Töchter und Söhne eine Menge auf dem Spiel. "Wir dürfen nicht akzeptieren, dass Vorurteile wie ,Lesen ist nichts für Jungen' oder ,Mathe ist nichts für Mädchen' weiterbestehen", mahnt OECD-Generalsekretär Angel Gurria, "denn solche Ansichten führen dazu, dass unserer Gesellschaft wichtiges Bildungspotential verlorengeht."

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