Klischees über Ärzte:Hanswürste in Weiß

Was ist nur aus den gut gebräunten, gut verdienenden Ärzten von gestern geworden? Heute schuften Sklavenarbeiter mit Selbstwertproblem in deutschen Kliniken.

Jens Petersen

Der deutsche Arzt ist das Opfer, soviel steht fest. Er ist kein Playboy, kein Porschefahrer, auch kein gemütlicher Tränensack wie einst Professor Brinkmann: er ist ein Hanswurst in Weiß, verdammt, tags und nachts für ein paar lausige Euro den Sisyphos zu spielen. Sein exzellentes Abitur hat über ein sechsjähriges Studium geradewegs ins Akademiker-Proletariat geführt. An vielen Kliniken gibt es erstaunlicherweise ein Überangebot an Stellen wie früher bei der Straßenreinigung; Osteuropäer kommen, um sie zu besetzen, weil kein deutscher Arzt sich mehr erbarmen will.

Die Schwarzwaldklinik

Vollendung des Helden-Klischees: Ärzte in der Schwarzwaldklinik.

(Foto: Foto: dpa)

Moment mal! Ärzte - waren das nicht Freunde der Hausmusik, ToskanaFahrer, Exponenten des gehobenen Mittelstandes? Sonnengebräunte Tennisspieler mit prickelnden Liebschaften? Oder Pfuscher, die mit großem Trara entlarvt werden konnten? Woher kommen plötzlich all die blassen, zerzausten Trötenbläser, Scheibenputzer und Schilderschwinger in der Tagesschau?

Das Bild des Arztes hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten gründlich gewandelt. Vielleicht ist das Interesse der Öffentlichkeit am derzeitigen Protest weniger durch die skandalösen Arbeitsumstände junger Klinikärzte, sondern vor allem durch die Diskrepanz zweier Klischees begründet: hier das des überkommenen Helden in Weiß, Vertreter einer von Zuversicht und Wohlstand geprägten Nachkriegs-BRD; dort das des Sklaven im weißen Kittel, Symbol für Überforderung, Mangel und die Erosion der Sozialsysteme.

Das Helden-Klischee fand zur Vollendung in der "Schwarzwaldklinik" und scheint, wie die Einschaltquoten neuer Folgen von 2005 zeigten, noch immer wohlgelitten. Dabei wurden nach dem Muster deutscher Heimatfilme geradezu absurde Szenarien konstruiert: Professor Brinkmann & Co. litten nie unter Zeitdruck - man besuche einmal eine Universitätsklinik und beobachte, in welchem grotesken Tempo selbst Oberärzte über die Flure hetzen. Brinkmann & Co. behandelten stets nur einen Patienten zur selben Zeit - in mancher Facharztpraxis sind es mehr als 40 pro Vormittag.

Außerdem hegte die Gerontokratie der Schwarzwaldklinik Umgangsformen, die selbst Ordensschwestern allzu barmherzig erscheinen dürften. Unvergessen die Dialoge zwischen dem Chefarzt und seinem Zivildienstleistenden à la "Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Professor!" - "Guten Morgen, lieber Mischa!"; eher begrüßt man sich an realen Kliniken mit einem - freilich ironischen - "Servus, Stinkgesicht".

Dass Chefärzte meist cholerische kleine Caesaren sind, entspricht der Wahrheit ebensowenig wie das Bild des Patriarchen, der seine Assistenten in die Lehre nimmt, jeden einzelnen fördert und mit vollem Namen kennt. Ärzte in bester Stimmung beim nächtlichen Hausbesuch; Ärzte, die in jedem Fachgebiet brillieren; Ärzte, die allesamt über ethische Maximen verfügen und ihr Handeln jederzeit danach ausrichten: so etwas gab es auch in den "fetten Jahren" nur im TV. Warum die Funktion mancher Ärzte im Dritten Reich das Helden-Kischee nicht berührt hat, sei dahingestellt.

Hanswürste in Weiß

Zeitgemäßere Serienproduktionen im deutschen Fernsehen wie "Alpha Team" orientieren sich an Vorbildern aus den USA. Im "Emergency Room" wirkten schon Mitte der neunziger Jahre Ärzte, die Fehler begingen und menschliche Schwächen zeigten. Hugh Grant gab in "Extreme Measures" 1996 einen Arzt, der Medizinbücher im Bett seiner Junggesellenbude wälzt und sich morgens auf sein völlig versparktes Motorrad schwingt. In "Scrubs", der von Touchstone produzierten Serie, schmeißen ein paar unerfahrene junge Chaoten die Notaufnahme des "Sacred Heart Hospital". Im deutschen Film "Anatomie" von 1999 hingegen ist Franka Potente die Inkarnation der Helden-Studentin, attraktiv, allwissend, strebsam und weitgehend asexuell, eine Expertin im Lösen monokausaler Probleme, die es in der realen Medizin nicht gibt.

Und die zerzausten, überforderten Trötenbläser? Ohne das Heldenklischee könnte das Sklavenklischee nicht sein. "Ich bin Arzt" - wer das einst sagte, dem war Respekt sicher; heute erntet man Mitleidsblicke und fällt wie beim Pawlow-Reflex in einen unwillkürlichen Jammersermon. Ein Arzt hat von der Schweiz und Norwegen zu träumen, sollte grübeln, ob er nicht, um seine Zukunft zu sichern, für einen Pharmakonzern Klinken putzen will. Die Depression beschleicht schon Medizinstudenten; man mag kaum glauben, dass der Beruf des Arztes laut einer Allensbach-Umfrage von 2004 noch immer der angesehenste ist. Das Sklaven-Klischee hat ein fundamentales Selbstwertproblem induziert, das selbst durch 30 Prozent mehr Gehalt, die der Marburger Bund fordert, nicht zu lösen sein wird.

Ein junger Arzt infundiert Patienten High-Tech-Antikörper, deren Nebenwirkungen mitunter letal sein können. Er spricht mit Patienten, deren Atmung aussetzen wird, über den Tod. Er bringt Patienten, die sprechen, schlucken und laufen wie er selbst, bei, dass sie bald im Rollstuhl sitzen, mit einem Schlauch ernährt werden und in absehbarer Zeit ersticken müssen. Er verabreicht aufgeblähten, siechen Patienten ein Medikament, das sie befähigt, zwei Tage später im Park spazieren zu gehen und kurz darauf, sagen wir, einen Skiausflug zu planen. Wenn Frau Müllers Entzündungswerte verrückt spielen, setzt er vielleicht ein Antibiotikum an und überlegt, ob es das Richtige war. Wäre Frau Müller nicht ein Fall für die Intensivstation? Er überlegt auf dem Weg nach Hause, im Kino und später im Bett.

Eine Statistik der Bundesärztekammer von 2004 besagt, dass 23 Prozent der Erstsemester von 1997 ihr Medizinstudium nicht zu Ende geführt haben; weitere 24 Prozent haben nie die Tätigkeit als Klinikarzt aufgenommen. Die Verluste beziffern sich somit auf knapp 50 Prozent. Vielleicht gibt es keinen schöneren Beruf, keinen, der einen das menschliche Leben in seiner Bandbreite von der Geburt bis zum Tod so intensiv erfahren lässt, der Gelegenheit gibt, Menschen unterschiedlichster Schichten und Kulturkreise in Momenten der Wahrhaftigkeit kennenzulernen. Darum geht es: Jungen Ärzten und Medizinstudenten das Gefühl zu vermitteln, man handle, wenn man für Patienten unter höchstem Einsatz sein Bestes gibt, für sich selbst zumindest angemessen und richtig. Dies ist auch, aber nicht nur eine Frage des Nettogehaltes; es ist auch, aber nicht nur eine Frage der Arbeitszeit. Selbst der ärmste Arzt wird nie ein Sklave sein - darum: fort mit dem Klischee!

Der Autor ist Arzt am Friedrich-BaurInstitut der Neurologischen Klinik und Poliklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München; und er ist Schriftsteller - sein Roman ¸¸Die Haushälterin", erschienen bei DVA, erhielt im vergangenen Jahr den Aspekte-Literatur-Preis.

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