Kindergarten für Hochbegabte:Wo die kleinen Schlauen spielen

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"Es geht nicht um die Heranzüchtung von Leistungseliten": Die Karg-Stiftung fördert Projekte für Hochbegabte - zu früh ist es dafür nie. Zu Besuch in einer besonderen Kita.

Johann Osel

Darf man den Schnee von da draußen in den Mund nehmen, möchte Erzieherin Johanna Nohl von den Kindern wissen. Für Christoph ist der Fall klar: "Der kommt vom Himmel, und der Himmel ist ja sauber", behauptet er - und verzieht wenige Minuten angewidert das Gesicht. Da schmilzt Johanna Nohl den Schnee, den sie in einer Schale aus dem Garten der Kindertagesstätte geholt hat, mit einer Kerze. Es bleibt eine unansehnliche Brühe, in der schwarze Klümpchen Dreck schwimmen.

Hochbegabte und Kinder aus einem Problembezirk spielen und lernen in der Nürnberger Kita der Karg-Stiftung gemeinsam. Jedes Kind, egal ob vom oberen oder unteren Spektrum der Leistungsskala, sollte gemäß seinen Fähigkeiten gefördert werden, lautet das Credo. (Foto: Karg-Stiftung)

Acht Kinder, drei bis fünf Jahre alt, sind gekommen zum Naturkunde-Unterricht mit Frau Nohl, einer liebenswürdigen, mütterlichen Dame mit fränkisch gerolltem "R". Dass den Kleinen die Experimente gefallen, sieht man schnell: staunende Augen, einige lutschen am Finger vor Anspannung, wippen hin und her. Und dass eine Kita ein solches Programm bietet, ist in der Nürnberger Karg-Kita nicht außergewöhnlich: Die Hälfte der Kinder dort gelten als hochbegabt.

Doch es sieht zunächst aus wie in einer gewöhnlichen Einrichtung. Da sind aufgekratzte und stillere Buben und Mädchen, die Biene-Maja-Gummistiefel tragen, Häschen-Pullis oder rosa Haarspangen. Hinter dem Konzept steht die Frankfurter Karg-Stiftung, die sich dem Thema Hochbegabung verschrieben hat. In der normalen Kita könnten sie - müssen es freilich nicht - Außenseiter werden, sagt Leiter Reinhard Ruckdeschel. Zum Projekt gehört neben der einen Hälfte Hochbegabter aber auch die andere: sie stammt aus der Nachbarschaft. St. Leonhard gilt als Problembezirk, viele Migranten, viele Hartz-IV-Familien. Die Hochbegabten können die Kinder aus dem Viertel hochziehen, so die Idee, und daneben "gesellschaftliche Realität erleben".

Im Alltag, sagt Ruckdeschel, sei dies gar kein Problem. "Fähigkeiten einzuschätzen geschieht bei Kindern in dem Alter noch völlig wertfrei. Der eine kann bis 100 rechnen, der andere dafür schneller rennen oder Purzelbäume schlagen." Laut Ruckdeschel geht das Konzept auf: Die Hochbegabten werden bestmöglich gefördert, und von den anderen kämen später meist Meldungen aus der Grundschule, dass sie dort erfolgreich sind.

Das Thema Hochbegabung ist immer noch von Vorurteilen bestimmt, sagt Ingmar Ahl, bei der Stiftung Vorstand für Projekte. Man will deshalb Wissen zu dem Thema vermitteln, Sensibilität dafür, was Hochbegabte brauchen. "Dabei geht es nicht um die Heranzüchtung von Leistungseliten", sagt Ahl. Vielmehr müsse das gesamte Bildungssystem besser aufgestellt werden. Das beginne bei der besseren Qualifizierung von Pädagogen "als Lernbegleiter in der inklusiven Förderung", damit sich jedes Kind entsprechend seiner Befähigungen entfalten könne.

"Was die Kinder wissen wollen, wird behandelt"

Die Stiftung fördert die Aus- und Fortbildung von Erziehern und Lehrern, gibt Impulse für Diagnostik und Schulentwicklung, zudem berät man Eltern und Einrichtungen. Die Nürnberger Kita wird von den regulären staatlichen Zuschüssen, den Stiftungsgeldern, Kita-Gebühren und Einnahmen aus Beratungsleistungen finanziert - Ausstattung und Angebot wirken nahezu paradiesisch: Es gibt neben herkömmlichen Spielangeboten musikalische Früherziehung, eine Bastel-Werkstatt, Kinder-PC-Gruppen, Foto-Projekte oder Schach.

Oder eben Naturkunde mit Frau Nohl. Die hat den Kindern gerade noch das Prinzip vom Eisberg im Meer erklärt; mit einem Schwenk zum Untergang der Titanic, was mit einem überraschten "Oooh oooh" quittiert wird. Nohl sagt, sie will bei den Kindern die Neugier wecken. So haben sie schon selbst Seife gekocht oder sich etwa mit Magneten beschäftigt. "Es gibt keinen festen Plan. Was die Kinder wissen wollen, wird behandelt." Diese Form der Einbindung sieht man auch in Reinhard Ruckdeschels Büro. An der Wand stehen dort die Voten des Kinder-Beirats. Zuletzt durften die Kleinen das Mittagessen bewerten. Bei Nudeln mit Tomatensoße und Kirschkuchen prangt ein Plus an der Tafel, die Currysoße kam weniger gut an. "Da merken die Kinder auch, dass wir sie ernst nehmen."

Drei Viertel der Hochbegabten kommen laut Ruckdeschel über eine Art Vorfilter, Eltern sind auf das Thema angesprochen worden; meist wegen positiver Auffälligkeiten wie hoher Merkfähigkeit und Kombinationsgabe oder sprachlicher Kompetenz. Vor der Einschulung sollte es dann eine komplexe Diagnose geben, eine frühere Einschulung sei aber nicht zwingend üblich. "Es geht um die Reife", sagt Ruckdeschel, "wir hatten Kleinkinder, die waren auf dem Stand eines 13-Jährigen, emotional aber wie fünf." Grundsätzlich müsse man am Einzelfall sehen, wie es weitergeht: Viele könnten in der Regelschule gut klarkommen, andere bräuchten mehr Freiheiten in einer besonderen Schulform.

"Die bestmögliche Kita", meint Ruckdeschel, "sollte aber jedem Kind zustehen." Eben auch denen aus dem Viertel, in deren Familien nicht die besten Bedingungen herrschen. Er kennt übrigens beide Seiten, das obere Leistungsspektrum und das untere. Bevor er sich auf Hochbegabung spezialisiert hat, war er als Psychologe in der Jugendhilfe. Die Besten und die Abgehängten, sagt er, brauchen beide Förderung. "Und gemeinsam haben sie beide auch die schlechte Lobby."

© SZ vom 31.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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