Julian Nida-Rümelin im Interview:"Königsdisziplin? Damit ist es vorbei"

Versinken die Geisteswissenschaften in Bedeutungslosigkeit? Philosophie-Professor Julian Nida-Rümelin über den Zustand seines Faches.

M. Thurau

Philosophie in Deutschland - ihre Geschichte ist eine Abfolge von großen Namen. Doch wie viel ist heute geblieben vom alten Glanz? Welche Rolle spielt die Disziplin noch an den Hochschulen hierzulande? Und wie sieht die Zukunft des Faches, zumal in München, aus - angesichts des Umbaus der Universitäten? Julian Nida-Rümelin, Lehrstuhlinhaber an der Universität München (LMU) und seit Januar Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, liefert eine aktuelle Bestandsaufnahme.

Julian Nida-Rümelin im Interview: Julian Nida-Rümelin: Der 54-Jährige lehrt politische Theorie.

Julian Nida-Rümelin: Der 54-Jährige lehrt politische Theorie.

(Foto: Foto: ap)

SZ: Philosophen sehen ihr Fach gerne als zentral, als Mutterwissenschaft. Spielt es tatsächlich in der Forschung an den Universitäten nicht nur eine marginale Rolle? In der Exzellenzinitiative ist das Fach an den etwa 75 gefördeten Großprojekten allenfalls bei einer Handvoll davon und in kleinem Rahmen beteiligt.

Julian Nida-Rümelin: Die Philosophie hat in den letzten Jahrzehnten nach wie vor ganze Forschungsrichtungen initiiert. Dazu gehören der Einfluss der Logik auf die Computerwissenschaft oder die Rolle der Sprachphilosophie für die heutige Linguistik. Aber Sie haben schon recht: Die alte hierarchische Ordnung der Fächer mit der Philosophie als Königsdisziplin - damit ist es vorbei. Die Philosophie ist ein Fach von vielen und muss Brücken schlagen zu anderen Disziplinen.

SZ: Wie kommt es zu dieser Kluft zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung?

Nida-Rümelin: Ich glaube nicht, dass es eine solche Kluft gibt. Das öffentliche Interesse an der Philosophie ist vermutlich größer als an jeder anderen Geistes- oder Sozialwissenschaft, schließlich kann und soll sie Orientierung geben, was etwa die Grundfragen im Umgang mit menschlichem Leben angeht, und die Beiträge der Einzeldisziplinen zu einem wissenschaftlichen Weltbild integrieren.

SZ: Haben die Vertreter des Faches ihren Randstatus mitverschuldet, etwa mit unnötigen Flügelkämpfen?

Nida-Rümelin: Alte Strömungskonflikte haben sich in den vergangenen Jahren aufgelöst. Meine Wahl zum Präsidenten der Philosophischen Gesellschaft ist dafür ein Indiz. In der Tat ist die Zeit lange vorbei, in der die Philosophie anderen Fächern diktieren konnte, wie sie zu forschen hätten. Trotzdem ist sie gegenwärtig in einer günstigen Situation. Sie wird nicht nur von den Nachbarfächern nachgefragt, sondern auch von den Ingenieurwissenschaften, der Medizin, der Biologie - und der Politik bis hinauf zum Nationalen Ehtikrat.

SZ: Und dabei geht es um mehr als um Einladungen, Festvorträge zu halten?

Nida-Rümelin: Ja, es geht vor allem um Forschungskooperationen. Ein großes interdisziplinäres Projekt in Berlin beispielsweise hat sich über Jahre damit auseinandergesetzt, ob wir unser Menschenbild angesichts der neuro- und anderen naturwissenschaftlichen Befunde revidieren müssen. Die Hälfte der Mitglieder der Arbeitsgruppe waren Philosophen, und die Debatten kreisten im Kern immer um philosophische Fragen.

SZ: Welche Schwerpunkte kann die LMU für solche Vorhaben aufbieten?

"Königsdisziplin? Damit ist es vorbei"

Nida-Rümelin: Das wichtigste Angebot in München ist das 2005 gegründete Kompetenzzentrum Ethik (MKE). Dort sind insgesamt acht Fakultäten vertreten, um die ethische Dimension der Forschung, aber auch der Berufspraxis in Medizin und Technik auszuleuchten.

SZ: Warum dann die schlechte Bilanz etwa in der Exzellenzinitiative?

Nida-Rümelin: Dort waren die Geisteswissenschaften generell, auch die Philosophie, schwach vertreten - weil sie massiv benachteiligt waren. In erster Linie hängt das damit zusammen, dass die Formate des Wettbewerbs auf die geisteswissenschaftliche Forschungskultur schwer übertragbar sind. Mit gut besetzten naturwissenschaftlichen Lehrstühlen mögen sich solch riesige Forschungsverbünde schmieden lassen, nicht aber mit den vergleichsweise winzigen in den Geisteswissenschaften. Dazu kommt, dass die Evaluation fast ausschließlich über englischsprachige Publikationen lief, was in weiten Teilen der Geisteswissenschaften nicht das Übliche ist.

SZ: Wenn nur englischsprachige Veröffentlichungen zählen, wie wollen Sie aus dieser Publikationsfalle herauskommen?

Nida-Rümelin: Früher gab es eine starke Dominanz der Philosophie und anderer Geisteswissenschaften an den europäischen Universitäten, einhergehend mit einer unausgesprochenen Hierarchie. Es ist gut, dass heute alle Fächerkulturen gleichrangig sind. Nun muss man aber aufpassen, dass nicht ein neuer Imperialismus entsteht. Die Standards, die in der Physik sinnvoll sind, kann man nicht unbesehen auf die Romanistik oder die Philosophie übertragen. Es ist nun einmal so, dass die wichtigsten Publikationen in unserem Fach Buchpublikationen sind und keine Zeitschriftenartikel. Darauf muss sich auch die Wissenschaftspolitik einstellen.

SZ: Und die Rolle der Sprache?

Nida-Rümelin: Da gilt das Gleiche. In vielen Bereichen des Faches, etwa der Logik, ist es üblich, dass man englischsprachige Artikel verfasst. Aber es gibt ebenso große Sparten wie etwa die Kant-Forschung, da lernen Italiener Deutsch, um Kant lesen und interpretieren zu können. Es ist nicht sinnvoll, das aufs Englische umzustellen. Die Vielfalt der Fächerkulturen ist ein Reichtum, warum sollten wir sie mutwillig beschädigen?

SZ: Woran liegt es, dass Philosophen öffentlich, zum Beispiel in Zeitungs-Feuilletons, anders als in Frankreich wenig präsent sind? Ist das eine spezifisch deutsche akademische Unlust?

Nida-Rümelin: Deutschland findet sich da in der Mitte eines breiten Spektrums. In Frankreich, dem einen Extrem, sind die öffentlichen Debatten oft sehr intellektuell gefärbt, auch die Politik ist intellektueller als etwa in Deutschland. Die USA sind das andere Extrem. Die Philosophie ist dort in der Öffentlichkeit nicht präsent, sie findet in den Medien keine Aufmerksamkeit. Andererseits sind Möglichkeiten, auf Politik oder Wirtschaft Einfluss zu nehmen, größer, weil die Philosophie dort als Ratgeber gefragter ist als hierzulande.

SZ: Gibt es nicht auch eine Scheu der Philosophen vor der öffentlichen Diskussion?

"Königsdisziplin? Damit ist es vorbei"

Nida-Rümelin: Viele Geisteswissenschaftler scheuen den unmittelbaren Kontakt mit einer breiteren Öffentlichkeit. Es gibt aber eine Bringschuld aller Wissenschaften. Gerade wir Philosophen müssen zeigen, dass das, was wir diskutieren und erforschen, helfen kann, sich in einer unübersichtlicher gewordenen Welt zurechtzufinden. Außerdem müssen wir den Missstand angehen, dass gerade in Deutschland, das in den letzten 300 Jahren nahezu die Hälfte der relevanten philosophischen Literatur beigesteuert hat, das Fach an den Schulen ein Mauerblümchendasein fristet.

SZ: Früher war das Philosophie-Studium eine kleine Massenbewegung - mit eklatant hohen Abbrecherquoten. Was ist daraus geworden?

Nida-Rümelin: Es gibt eine ambivalente Entwicklung. Die Umstellung auf verkürzte Bachelor-Studiengänge, die in den Geisteswissenschaften an der LMU im Übrigen noch gar nicht vollzogen ist, hat insgesamt nicht zu einem Absinken der Abbrecherquote, sondern zu ihrem Anstieg geführt. In den Fächern allerdings, in denen sie bislang extrem hoch war, zeichnet sich ein Rückgang ab. Zu diesen Fächern gehört die Philosophie. Das Studium, zumal in München, war wenig strukturiert; nun müssen wir aufpassen, dass die Umstellung nicht in eine zu weitgehende Verschulung mündet.

SZ: Was kann der Münchner Absolvent in Philosophie mit einem Bachelor eigentlich anfangen? Nur ein Master-Studium anhängen?

Nida-Rümelin: Das Ziel der Wissenschaftspolitik ist, dass die meisten Studenten nach dem Bachelor abgehen und auf dieser Grundlage berufstätig sein können. Das ist generell ein Problem, in den Geisteswissenschaften vermutlich noch am wenigsten. Für den Beruf, so hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt, spielen Studienfach und Schwerpunkt der Abschlussarbeit nicht mehr die zentrale Rolle. Es gibt einen immer größer werdenden Bereich der Arbeitswelt, in dem es eher wichtig ist, dass man überhaupt studiert hat. Die Unternehmen werden sich darauf einstellen müssen, dass die Absolventen künftig viel jünger sind und nach einem viel kürzeren Studium auf den Markt drängen.

SZ: Einen Teil der Ausbildung übernehmen die Firmen dann faktisch selbst?

Nida-Rümelin: Das ist bei der Umstellung die Erwartung von beiden Seiten gewesen. Anders macht das Ganze keinen Sinn. Die Hoffnung auf berufsfertige Abgänger war in vielen Fächern immer schon abwegig, weil die Universitäten theoretisch ausbilden und nicht praktisch. Mit dem Bachelor ist diese Erwartung noch absurder geworden. Insofern ahmen wir ein angelsächsisches Prinzip nach, dass nämlich die eigentliche Berufsfertigkeit erst durch learning on the job erworben wird.

SZ: Ihr Lehrstuhl wird zum Sommersemester umgesetzt. Sie lehren dann nicht mehr am GSI, an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät, sondern an der Philosophischen Fakultät. Warum dieser Wechsel?

Nida-Rümelin: Ich bin mit der Zusicherung nach München gekommen, dass die politische Theorie als Schwerpunkt des GSI erhalten bleibt. Es war das einzige politikwissenschaftliche Institut in Deutschland mit zwei philosophisch ausgerichteten Lehrstühlen. 2007 wurde jedoch entschieden, den Lehrstuhl Ottmann nach dessen Emeritierung zu streichen. Hinzu kommt, dass die Politikwissenschaft in Deutschland insgesamt sich immer stärker empirisch ausrichtet und die philosophische und ideengeschichtliche Dimension eine zunehmend randständige Rolle spielt.

Julian Nida-Rümelin lehrt politische Theorie, doch dürfte der heute 54-Jährige Philosoph auch reichlich Erfahrungen mit der politischen Praxis gesammelt haben: 1998 bis 2000 war er Kulturreferent der Stadt München, von Januar 2001 an für fast zwei Jahre Kulturstaatsminister beim Bundeskanzler. Nida Rümelin studierte Philosophie, Physik, Mathematik und Politikwissenschaft in München und Tübingen, war Professor in Tübingen und Göttingen, lehrte an der Humboldt-Universität in Berlin. Seit 2004 ist er Ordinarius für Politische Theorie und Philosophie an der Universität München (LMU).

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