Jahrgangsübergreifendes Lernen:Modellversuch mit Tücken

Immer mehr Grundschüler werden jahrgangsübergreifend unterrichtet. So sollen gute Schüler schneller lernen und schlechte aufgefangen werden. Doch ob das funktioniert, ist fraglich.

K. Schaar

An ihren Gruppentischen stehen 26 sechs- bis neunjährige Kinder. "Eins, zwei, drei, vier, wir sind alle hier", rhythmisch sagen sie den Reim auf und schlagen sich dabei im Gleichtakt Beine und Schultern. So beginnt die erste Stunde in der jahrgangsgemischten Klasse an der Berliner Fritz-Karsen-Schule. Die Kinder des ersten, zweiten und dritten Jahrgangs bilden eine gemeinsame Lerngruppe, sie heißen Sonnen-, Mond- und Sternenkinder.

Jahrgangsübergreifendes Lernen: Jahrgangsübergreifender Mathematik-Unterricht: In der gemischten Gruppe soll jeder auf seinem Niveau lernen, die Älteren den Jüngeren helfen.

Jahrgangsübergreifender Mathematik-Unterricht: In der gemischten Gruppe soll jeder auf seinem Niveau lernen, die Älteren den Jüngeren helfen.

(Foto: Foto: dpa)

Jahrgangsübergreifendes Lernen (Jül) wird in vielen Bundesländern ausgebaut, bereits vor zwölf Jahren fassten die Kultusminister einen Beschluss zur Flexibilisierung des Schulanfangs. Fast unbemerkt von den ansonsten hitzig geführten Bildungsdebatten ist eine der größten Schulreformen der vergangenen Jahrzehnte im Gange. Neben glühenden Anhängern gibt es dabei auch scharfe Kritiker.

Flexibel, individuell und gleitend

Die Idee von Jül: Kinder sind unterschiedlich weit, wenn sie in die Schule kommen, manche können bereits lesen, bei anderen dauert es noch; einige haben Probleme, eine Schere zu halten, andere sind Bastelkönige. In der gemischten Gruppe soll jeder auf seinem Niveau lernen, die Älteren den Jüngeren helfen. Kinder können die zweijährige Eingangsstufe in einem oder zwei Jahren durchlaufen, manche Schulen fassen sogar drei Klassenstufen zusammen.

Flexibel, individuell und gleitend soll also der Schulanfang werden. Berlin, Schleswig-Holstein und Brandenburg sind die Vorreiter, doch auch andere Länder führen Jül ein. "Die Altersmischung ermöglicht den Kindern vielfältige Erfahrungen als Lehrende und Lernende", sagt Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU). Das Konzept leiste einen Beitrag zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit.

In den Flächenländern ist das jahrgangsübergreifende Lernen auch eine Möglichkeit, bei sinkender Kinderzahl die Schulen nah am Wohnort zu halten. Während Mecklenburg-Vorpommern Jül eher als Notlösung sieht, nährt es bei anderen pädagogische Hoffnungen. Besonders weit ist Berlin. Dort werden im nächsten Jahr 85 Prozent der Schulen jahrgangsgemischt unterrichten, hundert Prozent sollen es werden.

Konzentrierte Atmosphäre

An der Fritz-Karsen-Schule endet der Gleichtakt nach der gemeinsamen Begrüßung. Anschließend macht jeder etwas anderes. Die junge Lehrerin Jenny Irmen bespricht die kommende Stunde: "Wer hat noch etwas zu tun?" Eine Gruppe, bestehend aus zwei jungen Sonnen-, zwei mittleren Mondkindern sowie einem älteren Sternenkind, geht ins Nebenzimmer und gestaltet ein Plakat über die fünf Sinne. Sie kleben, schneiden, schreiben. Auch die anderen Kinder wissen, was sie tun müssen. Zur Orientierung hängt ein Arbeitsplan an der Tür. Zur Auswahl stehen: Plakat gestalten, Text lesen, Geschichte schreiben. Hinter den Aufgaben sind jeweils die Namen verzeichnet. Die Kinder streichen sich selbst ab, wenn sie eine Aufgabe erledigt haben.

Es herrscht eine konzentrierte Atmosphäre, die Kinder reden leise miteinander und zeigen sich ihre Arbeiten. Die Lehrerin tritt in den Hintergrund, berät auf Nachfrage. Jenny Irmen, die zuvor in Niedersachsen in einer normalen zweiten Klasse unterrichtet hat, sieht in JüL Vorteile: "Die Kinder sind sozial viel weiter, sie finden sich immer wieder in eine neue Rolle ein." Jede Woche nimmt sie die Arbeitsergebnisse mit nach Hause.

Auf der nächsten Seite: Warum sowohl Kinder mit Hochbegabung als auch solche mit Lernschwierigkeiten vom gemeinsamen Lernen profitieren könnten - aus sozialen Brennpunkten aber Kritik am Konzept laut wird.

"Verweilen" statt Sitzenbleiben

Ambitionierte Elternhäuser

Ihre Kollegin Hauke Niemer meint, sie hätte noch nie einen so guten Überblick gehabt, wie weit jedes Kind sei. Aber es erfordert intensive Vorbereitung, für jedes Kind das geeignete Material vorzuhalten. Besonders für die "schnellen" Kinder sei das System gut, sagt Jenny Irmen, weil sie nicht, wie beim Überspringen, in eine ganz andere Lerngruppe aufrücken müssten, sondern von Anfang an mit den Größeren arbeiten könnten.

Auch in Evaluationen von Modellversuchen ist die Altersmischung gelobt worden. Sowohl Kinder mit Hochbegabung als auch solche mit Lernschwierigkeiten würden in Jül-Klassen besser unterstützt. Die Modellversuche fanden jedoch unter Sonderbedingungen statt: mit sehr engagierten Lehrern, besserer Ausstattung und Kindern, die aus ambitionierten Elternhäusern stammten. Wird die flexible Anfangsphase auf alle Schulen ausgeweitet, müsse man entsprechend gute Bedingungen schaffen, sagt die Würzburger Professorin Margarete Götz, die einen Schulversuch in Baden-Württemberg ausgewertet hat, "sonst besteht die Gefahr, dass man die Vorteile, die wir bisher kennen, aufs Spiel setzt."

Ernüchternde Ergebnisse

Aktuelle Ergebnisse aus Berlin sind ernüchternd: Im vergangenen Schuljahr durchlief dort jedes sechste Kind die zweijährige Eingangsstufe in drei Jahren, hingegen rutschte nicht einmal eines von hundert Kindern in einem Jahr durch. Das in der Eingangsstufe als Chance gedachte "Verweilen" von Kindern mit Aufholbedarf bekommt nun in der Berliner Diskussion als "Sitzenbleiben" einen Makel. Doch die Berliner Kinder werden jetzt ein halbes Jahr früher eingeschult, Rückstellungen wurden abgeschafft und es gibt keine Vorklassen mehr, Vergleiche sind daher schwierig.

Kritik kommt auch aus Schulen in sozialen Brennpunkten. "Wir bemühen uns redlich", sagt ein Schulleiter aus dem sozial schwachen Bezirk Neukölln, "aber mich und meine Kollegen überzeugt das jahrgangsübergreifende Modell nicht". Wenn die Schüler keine Bücher kennen und schlecht sprechen können, müssen sie erst mal auf einen gemeinsamen Stand gebracht werden. Der Aufwand sei doppelt so groß, und häufig zögen die Lernanfänger eine gesamte Gruppe nach unten. Auch der Bericht zum Berliner Schulversuch stellt fest: "Zu viele schwierige Schüler können auch jahrgangsgemischte Gruppen überfordern."

Wenig überprüfte Umsetzung

So hängt der Erfolg altersgemischter Lerngruppen von den Fertigkeiten der Schüler ab, von der räumlichen und personellen Ausstattung und der Motivation und den Fähigkeiten der Lehrer, die ihren Unterricht umstellen müssen. Verwunderlich ist, dass die Umsetzung so wenig überprüft wird. Hans Anand Pant, Leiter des Instituts für Schulqualität der Länder Berlin und Brandenburg, kritisiert, dass es kaum Studien gibt, die die Wirkung von Jül- und Regelklassen im Normalbetrieb, also nicht nur in Modellversuchen, empirisch solide vergleichen. Er hält solche Studien "für dringend erforderlich". Nur Bayern untersucht seit diesem Schuljahr durch eine Studie der Universität Augsburg, wie sich die Leistungen in jahrgangsgemischten und in traditionellen Klassen unterscheiden. Ergebnisse stehen noch aus.

An der Fritz-Karsen-Schule liest das "Mondkind" Jan zum Abschluss der Stunde seine Geschichte vor. Nicht nur die Lehrerin verteilt Lob. Kritik und Anerkennung kommt auch von den anderen Kindern. Den Jüngeren und den Älteren.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: