IT-Experten:Entwickler nach Maß

Nirgends arbeiten angehende Programmierer so eng mit Unternehmen zusammen wie an der privaten Fachhochschule Code University in Berlin. Kann man das überhaupt noch Studium nennen?

Von Rebekka Gottl

IT-Experten: Spielwiese für Nerds: Plüschkojen, Tischtennisplatte, Bällebad - die Uni macht Anleihen bei typischen Berliner Start-ups.

Spielwiese für Nerds: Plüschkojen, Tischtennisplatte, Bällebad - die Uni macht Anleihen bei typischen Berliner Start-ups.

(Foto: Paula Pisarcikova)

Alles ist hier anders als an einer normalen Hochschule, sogar die Namen der Räume. Sie heißen "Cognito" oder "Sechs Minuten". Selma Illig steuert den Raum "Amy Farrah Fowler" an, benannt nach der durchgeknallten Neurowissenschaftlerin aus der Serie "The Big Bang Theory". Drei Bewerber folgen ihr. Sie ziehen Rollkoffer hinter sich her, halten ihr Smartphone oder einen Laptop in der Hand. Gleich wird jeder seine "Challenge" vorstellen - ein Projekt, das er eigens für die Bewerbung entwickelt hat.

Ein Kandidat hat ein Programm entworfen, das bei der Übersetzung von Speisekarten im Ausland helfen soll. Ein anderer zeigt die Bedienoberfläche einer App, mit der man Schulbücher lesen und Aufgabenblätter bearbeiten kann. Die Gruppe diskutiert, schlägt Verbesserungen vor. Selma Illig hört zu und macht sich Notizen. Die Studentin wird mitentscheiden, wer ab September an der Code University in Berlin studieren darf. Bei der Auswahl des neuen Jahrgangs haben die aktuellen Studierenden Mitspracherecht. Nur ein Professor ist am Bewerbertag anwesend.

Seit 2017 gibt es die Code University, eine private, staatlich anerkannte Fachhochschule, die drei Bachelorstudiengänge anbietet: Software Engineering, Product Management und Interaction Design. "Die meisten deutschen Technologiestudiengänge sind zu theorielastig", sagt Jonathan Rüth, einer der drei Hochschulgründer, "zu weit weg von der Wirklichkeit". Besonders in den ersten Semestern fehle der Praxisbezug.

Knapp 40 000 Schulabgänger begannen im vergangenen Jahr in Deutschland mit dem Informatikstudium. Etwa die Hälfte von ihnen wird es vor dem Abschluss abbrechen, die Quote ist seit Jahren konstant. Dabei herrscht ein dramatischer Mangel an IT-Spezialisten. Der Technologieverband Bitkom ging Ende 2018 von 82 000 unbesetzten Stellen aus, das sind fast 50 Prozent mehr als im Vorjahr. Hier will die Code University gegensteuern. Das Studium soll anwendungsbezogen sein, international ausgerichtet, interdisziplinär - und ein völlig neuartiges Bildungskonzept erproben.

"Technische Fähigkeiten spielen bei der Bewerbung erst mal keine Rolle", sagt Illig. "Das lernen wir hier." Die 23-Jährige studiert Software Engineering und sitzt an einem langen Holztisch in der Factory, einem Backsteinbau in Berlin-Kreuzberg. Das fünfstöckige Gebäude teilt sich die "Code", wie die Hochschule hier genannt wird, mit Freiberuflern, Start-ups und den Digitalabteilungen von Unternehmen wie McKinsey und Siemens. Die Factory löst alle Klischees einer hippen Arbeitsumgebung ein: leger eingerichtete Seminarräume, offene Küchen, Gemeinschaftsbereiche mit Bällebad, Tischtennisplatte und rosafarbenen Sitznischen.

An den Wänden weisen Schilder darauf hin, dass hier Englisch gesprochen wird. "Etwa ein Drittel der 200 Studierenden kommt aus dem Ausland", sagt Hochschulgründer Rüth. Auch dieses Jahr sind einige Bewerber für den Auswahltest von weit her angereist. Sie kommen aus Russland, Taiwan, Italien, Südkorea und Indien. Die Studienplätze sind begehrt, jedes Jahr gehen mehr als 1000 Bewerbungen ein. Die Zahl der Studienanfänger steigt, eine Zusage bekommt trotzdem nur ein Bruchteil der Interessenten. Der erste Jahrgang besteht aus 88 Studierenden, für dieses Jahr sind 180 Neuzugänge vorgesehen.

IT-Experten: Die Software-Engineering-Studentin Selma Illig (links) präsentiert ihr Projekt vor Publikum.

Die Software-Engineering-Studentin Selma Illig (links) präsentiert ihr Projekt vor Publikum.

(Foto: Tibor Szabosi)

Das Bildungskonzept ist leicht erklärt. "Die Studierenden lernen die Theorie über die Praxis", sagt Rüth. Denn Wissen präge sich am besten ein, wenn es in einem praktischen Kontext erfahren würde - davon sind die drei Hochschulgründer überzeugt. "Wir nennen das Curiosity-driven-Education, also das von Neugier getriebene Lernen." Um die Praxis wirklichkeitsnah in die Hochschule zu holen, kooperiert sie mit zwölf Internetunternehmen, darunter Zalando, Trivago und Facebook.

Zu Beginn jedes Semesters stellen die Firmen neue Technologien vor, beschreiben aktuelle Probleme oder präsentieren Datensätze. Da die Studierenden eigene Schwerpunkte setzen dürfen, können sie sich für eines der angebotenen Themen entscheiden. Anschließend arbeiten sie ein ganze Semester lang als Softwareentwickler, Produktmanager und Interaktionsdesigner in interdisziplinären Teams an einem Projekt.

Diese Nähe zur Praxis habe ihr an der staatlichen Universität gefehlt, sagt Illig. Vier Jahre lang hat sie Politikwissenschaft in Jena studiert. "Nach einer trockenen Vorlesung und dem zugehörigen Seminar war das Thema abgeschlossen", sagt sie. An der Code University würden dagegen stets Verknüpfungen hergestellt. Die Projekte zeigten, wie theoretisches Wissen bei der Lösung eines konkreten Problems nützlich sein kann. "Ich habe ja keine Lust, ein 800-seitiges Buch nur fürs Studium zu lesen", sagt Illig. "Wenn ich aber die Theorie aus dem Buch auf mein Projekt anwenden kann, motiviert das zum Weiterlesen."

Auch die Notengebung unterscheidet sich von anderen Hochschulen: Es gibt keine. Ebenso wenig wie klassische Prüfungen oder Seminararbeiten. Der Lernfortschritt wird in einem Raster festgehalten. Wie bei einem Computerspiel können die Studierenden ein Level nach dem anderen erklimmen. Luca Brües studiert Product Management und hat sich 2018 an der Code University beworben, nachdem er sein Wirtschaftsinformatikstudium in Münster abgebrochen hatte. Zusammen mit Illig hat er im Sommersemester einen Programmierwettbewerb organisiert, einen sogenannten Hackathon. Damit hat er ein weiteres Level im Kompetenzraster erreicht. Die zwanzig Professoren der Hochschule übernehmen bei solchen Projekten die Rolle von Mentoren.

IT-Experten: Der Product-Management-Student Luca Brües (rechts) arbeitet im Seminarraum.

Der Product-Management-Student Luca Brües (rechts) arbeitet im Seminarraum.

(Foto: Code University)

"Die Hierarchien sind flach", sagt Illig. Im ersten halben Jahr hat sie einen Einblick in die beiden anderen Bachelorfächer bekommen. Erst nach diesem Orientierungssemester steht die Entscheidung für einen Studiengang an. Zu wissen, was die anderen leisten müssen, helfe enorm bei der Einschätzung des Arbeitsaufwands und der Umsetzung der Projekte, sagt sie. Bevor sie sich für Software Engineering entschieden hat, habe sie bereits als Interaktionsdesignerin und als Produktmanagerin an einem Projekt gearbeitet, erzählt sie. "Wir werden als Allrounder mit Schwerpunkt ausgebildet", sagt Brües. Dazu müsse man kein "Klischee-Nerd" sein, der sich das Programmieren schon im Kinderzimmer selbst beigebracht hat.

Illig nennt die Hochschule einen "safe space", einen sicheren Raum. Wenn ein Ansatz nicht wie erwartet funktioniere, habe man immer die Möglichkeit, das Produkt "in die Tonne zu treten", ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen. "Wenn ein Projekt voll gegen die Wand gefahren wird, aber alle Studis reflektieren und verstehen können, was passiert ist, dann ist das Ganze aus Sicht der Hochschule hocherfolgreich", sagt Jonathan Rüth.

Die meisten Hochschulen bemühen sich um Wirtschaftskontakte, gerade die technischen Fachbereichen. Doch so eng wie die Code University kooperieren wenige. Knapp fünf Millionen Euro spendierten die Partnerfirmen allein für die Grundfinanzierung. Geldgeber wie Trivago-Gründer Rolf Schrömgens, Otto GroupErbe Benjamin Otto oder der Unternehmer Frank Thelen, der auch in der TV-Show "Die Höhle der Löwen" auftritt, sind bekannte Namen in der Gründerszene. Neben finanzieller Unterstützung beteiligen sich die Partnerfirmen mit Projektideen und Workshops für die Studierenden.

Programmierer

Programmierer oder Programmiererin ist eine unscharfe Berufsbezeichnung für Menschen, die Software entwerfen und realisieren. Je nach dem, welche Rolle sie im Prozess der Softwareentwicklung spielen, nennen sie sich auch Softwareingenieur, Websiteprogrammierer, Backend Developer, Systementwickler und vieles mehr. In der Regel haben sie Informatik an einer Hochschule oder Berufsakademie studiert, daneben gibt es viele Quereinsteiger. Kritiker bemängeln, dass sich Uniabsolventen zu viel mit Theorie beschäftigt haben und zu wenig praktische Kenntnisse für den Beruf mitbringen. Einige Hochschulen versuchen das zu ändern und legen von Beginn an Wert auf das klassische Programmierhandwerk. sz

Inhaltlich bereitet die große Nähe zur Digitalwirtschaft offenbar kein Kopfzerbrechen. Doch bald will die Hochschule finanziell unabhängig sein und sich nur noch durch Studiengebühren tragen. Denn kostenlos wie das Informatikstudium an staatlichen Hochschulen ist die Ausbildung an der Code University nicht. Der dreijährige Bachelor schlägt mit etwa 30 000 Euro zu Buche, zahlbar in monatlichen Raten von 822 Euro.

Alternativ gibt es den "umgekehrten Generationenvertrag", bei dem die Studierenden keine Gebühren zahlen, dafür aber später im Berufsleben zehn Jahre lang sieben bis neun Prozent ihres Einkommens abgeben. Studieren, so die Idee, soll sich jeder leisten können. "Bei privaten Unis denkt man oft an Studierende mit reichen Eltern", sagt Selma Illig. Das sei an der Code University anders, sie sei "keine Schnösel-Hochschule". Doch so sehr sie sich von anderen Unis abzugrenzen versucht, hat sie eines mit deren Informatik-Fachbereichen gemein: Nur 25 Prozent der Studierenden sind Frauen. Auch die heutige Auswahlrunde besteht hauptsächlich aus Männern.

Die drei Bewerber im Raum "Amy Farrah Fowler" haben ihre Projekte mittlerweile vorgestellt und diskutiert. Auf dem Weg zu den anderen Kandidaten kommen sie an einer Gruppe von Studierenden vorbei, die Plakate malen - für die nächste "Fridays for Future"-Demonstration.

Der Hochschule sei es wichtig, keine reinen "Code Monkeys" auszubilden, die stur ihre Aufgaben erledigen, sagt Rüth. In Workshops beschäftigen sich die Studierenden daher auch mit gesellschaftspolitischen Themen. Sie hinterfragen digitale Entwicklungen und diskutieren, ob Technik unser Leben weiterhin so stark beeinflussen sollte. Die Antwort darauf falle in der Regel positiv aus, meint Selma Illig. "Wir sind nun mal eine Tech-Uni."

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