Hausaufgaben, Klassenarbeiten, Noten - all das hat der Franzose André Stern, 38, nie kennengelernt. Auch zu Hause, in der Wohnung seiner Eltern in Paris, wurde weder schreiben noch rechnen gepaukt. Möglich war das, weil es in Frankreich keine Schulpflicht gibt. Trotzdem spricht der Sohn des deutsch-französischen Kunstpädagogen Arno Stern und einer französischen Grundschullehrerin fünf Sprachen, unter anderem fließend Deutsch, und arbeitet als Musiker, Komponist, Gitarrenbauer, Informatiker und Journalist. Gerade ist sein Buch "... und ich war nie in der Schule" im Zabert-Sandmann-Verlag erschienen.
SZ: Herr Stern, Sie sind ein Lehrerkind und wurden trotzdem nie unterrichtet. Wie passt das zusammen?
André Stern: Vermutlich gerade deshalb. Mein Vater hat in Paris ein Malatelier gehabt - nicht um dort künstlerisches Talent zu fördern, sondern weil er der Meinung war, dass Kinder ihre Fähigkeiten beim Malen am besten entfalten können und dafür keine Anleitung von Erwachsenen brauchen. Auch meine Mutter hat als Lehrerin die Erfahrung gemacht, dass Kinder in der Schule ihre Natürlichkeit verlieren und ständig in ihrem Tun unterbrochen werden. Das wollten sie mir und meiner Schwester ersparen.
SZ: Haben Sie sich denn nie gewünscht, in die Schule gehen zu dürfen?
Stern: Nein. Ich hatte ja Freunde, die in der Schule waren. Die konnten aber weniger spielen und mussten ständig Hausaufgaben machen. Sie haben mich immer beneidet und gesagt: "Hast du ein Glück." Also war ich glücklich.
SZ: Und Sie waren nicht neugierig, wie es in der Schule wohl so ist?
Stern: Mir hat nichts gefehlt.
SZ: Auch der Kontakt mit gleichaltrigen Kindern nicht?
Stern: Das ist die Klassiker-Frage. Ist es nicht der Kontakt mit Menschen, der lebenswichtig ist? Warum soll der Kontakt mit Gleichaltrigen denn so wichtig sein?
SZ: Zum Beispiel, um sich in der Jugend von den Erwachsenen abzugrenzen oder gleiche Interessen zu teilen ...
Stern: Ich musste mich nie abgrenzen, ich hatte ja alle Freiheiten. Und meine Interessen haben meine jüngere Schwester und ich mit vielen Menschen geteilt. Wir hatten viele Freunde, ältere, jüngere, gleichaltrige von allen Kontinenten.
SZ: Sind Ihnen die Eltern nicht irgendwann auf die Nerven gegangen?
Stern: Nein, wir saßen ja nicht den ganzen Tag zu Hause aufeinander. Wir waren viel unterwegs, und oft sind Freunde oder Bekannte vorbeigekommen und haben uns Kinder ins Theater, in eine Ausstellung oder ins Kino mitgenommen.
SZ: Sie haben mit drei Jahren lesen gelernt. Waren Sie hochbegabt?
Stern: Nein, weder besonders begabt noch besonders fleißig. Ich habe einfach auf einer bedruckten Seite Eier und Eierbecher entdeckt - zumindest habe ich das C und das O, die im Französischen oft nebeneinander stehen, dafür gehalten. Als ich verstanden habe, dass das keine Eier sind, wollte ich die anderen Buchstaben kennenlernen. Ich habe entdeckt, dass es auch Eier mit Strichen und Striche ohne Eier gibt. Mit dreieinhalb konnte ich Wörter entziffern. Aber das hat mir für lange Zeit auch gereicht. Erst mit acht habe ich mein erstes Buch gelesen.
SZ: Hatten Ihre Eltern keine Sorge, dass ihr Experiment scheitern könnte?
Stern: Ich würde es nicht als Experiment bezeichnen. Sie wussten, was sie taten, und sie hatten Vertrauen in mich.
SZ: Wer hat bestimmt, was Sie lernen?
Stern: Ich ganz allein. Das lief alles spielerisch ab. Mit der Kreiszahl Pi kam ich zum Beispiel in Kontakt, weil ich wissen wollte, welche Strecke mein Lego-Technik-Auto pro Radumdrehung zurücklegt. Es kam vor, dass bestimmte Dinge - Autos, Lokomotiven, Hieroglyphen, Proust, Brahms oder die Gitarre - so in den Vordergrund traten, dass sie für eine Weile mein Leben bestimmten. Das konnte Tage, Monate, sogar Jahre dauern. Die absolute Konzentration, die Emotionen, die ich da erlebt habe, sind für mich die eindrücklichsten Momente meiner Kindheit.
SZ: Haben Sie keine festen Strukturen vermisst?
Stern: Die gab es. Jeder Wochentag stand für etwas Bestimmtes. Montags Fotografie, dienstags Algebra, mittwochs das Malen bei Papa im Malort. Und wo es keine Strukturen gab, habe ich mir selbst welche geschaffen. Die Gewohnheit, stets morgens um sechs Uhr aufzustehen und Gitarre zu üben, habe ich schon mit zehn Jahren eingeführt und halte mich heute noch daran. Sprachen habe ich nach dem Frühstück gelernt. Nur für Deutsch habe ich mit 18 so eine Passion entwickelt, dass ich sechs Stunden am Tag gelernt habe. Nach einem halben Jahr hatte ich das Buch mit seinen 150 Lektionen durch.
SZ: Sie konnten sich ja für ziemlich viele Dinge begeistern. Das ist ganz sicher nicht bei jedem Kind so.
Stern: Mein Weg ist kein Patentrezept. Aber ich glaube, den natürlichen Lerntrieb hat jedes Kind in sich, er wird nur oft von der Umwelt unterdrückt. Trotzdem bin ich kein Schulfeind. Ich möchte niemanden bekehren, sondern nur zeigen, dass man ohne Schule nicht zwangsläufig asozial oder arbeitslos wird.
SZ: Sie haben gleich mehrere Berufe - Musiker, Gitarrenbauer, Journalist - aber keinen Abschluss ...
Stern: Ich habe eben mit Kompetenz gepunktet, nicht mit Qualifikation. Bei uns in der Familie hat es nie eine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit gegeben. Mit 17 habe ich für einen Gitarrenauftritt zum ersten Mal Geld bekommen. Wahrscheinlich war das mein Einstieg ins Berufsleben. Bei meiner Schwester war das ähnlich. Sie ist heute Schauspielerin.
SZ: Haben Sie heute Wissenslücken?
Stern: Wer hat die nicht? Aber das sind keine Löcher, die sich nicht stopfen lassen. Ich empfinde es nicht als Drama, etwas nicht zu wissen, sondern als Bereicherung. Was mir fehlt, neulich zum Beispiel Hebräisch, versuche ich, mir anzueignen.
SZ: Wenn Sie Kinder hätten, würden Sie die dann in eine Schule schicken?
Stern: Nein, ich will ihnen die gleichen Möglichkeiten geben, die ich hatte. Außer natürlich, sie wollen in die Schule.