Süddeutsche Zeitung

Schausteller in der Krise:"Da werden teilweise Altersvorsorgen aufgelöst"

Manche können ihre Wohnwagen kaum noch heizen, anderen geht das Tierfutter aus: Für Schausteller und Zirkusfamilien sei dieses Jahr eine Katastrophe, sagt Seelsorger Torsten Heinrich.

Interview von Julian Erbersdobler

Kein Gäubodenfest, keine Wiesn, kein Nürnberger Christkindlesmarkt: Wer von Großveranstaltungen lebt, hat es in diesem Corona-Jahr besonders schwer. Torsten Heinrich, 58, leitet die Circus- und Schaustellerseelsorge (CSS) der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Eine sehr lebendige Gemeinde mit etwa 20 000 Mitgliedern, wie der Pfarrer erzählt. Aber eben auch eine Gruppe, die es im Moment kaum härter treffen könnte.

SZ: Viele Menschen wissen gar nicht, dass es Ihren Job gibt. Wie muss man sich Ihren Arbeitsalltag vorstellen?

Torsten Heinrich: Normalerweise bin ich 200 Tage im Jahr unterwegs, etwa 60 000 Kilometer. Ich fahre auf Volksfeste oder zu Zirkusfamilien, um zu hören, ob alles in Ordnung ist. Es muss nicht immer einen Anlass für meinen Besuch geben. Zu meinem Job gehört aber natürlich auch, dass wir gemeinsam Gottesdienste feiern. Dazu kommen familiäre Feste, Hochzeit, Taufe, Konfirmation, aber auch Beerdigungen.

Interview am Morgen

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Nun ist an diesem Jahr nichts normal. Wie hat sich Ihre Arbeit verändert?

Extrem. Ich war deutlich weniger unterwegs. Wir hatten zwar einige Taufen im Sommer, als zwischendrin wieder mehr erlaubt war, aber ansonsten geht es vor allem um das Kontakthalten über Telefon, Whatsapp und Facebook.

Was erzählen Ihnen die Schausteller und Zirkusfamilien?

Man muss das schon mal deutlich sagen: Für die ist es ein katastrophales Jahr. Es gibt Leute, die sind nervlich am Ende. Manche müssen schauen, dass sie ihre Wohnwagen noch heizen können, bei anderen wird das Futter für die Tiere knapp, wenn kein Geld reinkommt. Und das Ganze geht jetzt schon seit März. Genau da wären die Schausteller eigentlich langsam wieder losgezogen. Das heißt: Die stehen in den Startlöchern, es kribbelt, man kann nach der Winterpause endlich wieder raus, trifft die Kolleginnen und Kollegen, kann wieder auf die Reise gehen. Und dann kommt der erste Lockdown.

Seither hat sich die Lage nicht gerade verbessert, wenn man sich die Infektionszahlen anschaut.

Das Problem ist: Viele Hilfsangebote der Politik gehen an den besonderen Bedürfnissen der Reisenden vorbei. Gerade wird wieder über Gelder gesprochen, die sich danach richten, wie viel man im November des Vorjahres verdient hat.

Was ist daran das Problem?

In dieser Zeit rüsten viele um, von der Kirmes zum Weihnachtsmarkt. Da wird nicht viel eingenommen. Es geht eher darum, alles wieder auf Vordermann zu bringen und Material einzukaufen. In anderen Worten: Dieser Schutzschirm passt einfach nicht für die Schausteller.

Wie können Sie als Seelsorger helfen? Geld spielt da mit Sicherheit eine große Rolle, oder?

Absolut. Bei vielen geht es um die Existenz. Wir haben schon vor Corona einen Nothilfefonds eingerichtet, der helfen soll, wenn jemand mal ins Schleudern gerät. Dank der Spenden von Kirchengemeinden oder Einzelpersonen können wir Schaustellern und Zirkusleuten finanziell unter die Arme greifen. Aber Geld ist auch nicht das einzige Mittel. Bei meiner Arbeit geht es auch viel darum, die Menschen darin zu bestärken, laut zu sein. Denn nur wer auf sich aufmerksam macht, kann auch gehört werden.

Sie meinen auf Demonstrationen?

Unter anderem, ja. Ich selbst war auf mehreren Kundgebungen, zum Beispiel im Rahmen der Initiative "Alarmstufe Rot". Bei Schaustellern und Zirkusleuten ist es nicht unüblich, dass da auch mal ein Pfarrer auf der Bühne steht und redet. Aber es geht nicht nur über Demos. Wichtig ist auch, Gespräche mit Politikern auf regionaler Ebene zu führen.

Viele Schausteller haben seit dem letzten Weihnachtsmarkt nichts verdient. Wie schaffen sie es überhaupt, den Kopf über Wasser zu halten?

Bei einigen geht es tatsächlich um das Überleben. Da werden teilweise Altersvorsorgen aufgelöst. Ich habe aber tatsächlich noch von niemandem gehört, dass er ganz aufgeben will. Das ist deren Leben, die haben das im Blut. Manche haben sich zwischenzeitlich einen anderen Job gesucht, zum Beispiel an der Kasse im Supermarkt oder bei einem Corona-Testzentrum. Sie tun alles, um irgendwie durchzukommen.

Einer Ihrer letzten Gottesdienste auf einem Volksfest war Ende Oktober auf dem Herbstvergnügen in Hannover. Kurz danach wurde das Fest vorzeitig beendet - wegen Corona.

Ich denke gerne an diesen Gottesdienst zurück. Wir haben uns auf der Autoscooter-Platte getroffen. So viele Schausteller wie in diesem Jahr waren noch nie da. Es war uns allen miteinander ein wichtiges Anliegen. Wahrscheinlich weil wir wussten, dass wir gerade in extrem schwierigen Zeiten leben und es noch eine Menge Kraft braucht, bis die wieder vorbei sind.

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