Internatsgymnasium mit Sprachschule:Diversity braucht Toleranz

Schüler aus aller Welt lernen auf dem Campus im Stift Neuzelle gemeinsam. Für die Pädagogen ist das eine Herausforderung, weil sich die Vorstellungen von Lehre und Zusammenleben teils stark unterscheiden.

Von Christiane Bertelsmann

Von Kairo nach Neuzelle in Brandenburg. Mehr Kontrast geht kaum. Hier die Millionenstadt. Und da das Dorf mit 4300 Einwohnern. Hauptattraktion: die Klosteranlage. In einem der vier über das Klostergelände und im Ort verteilten Internatshäuser auf dem Campus im Stift Neuzelle lebt Jana, ein Mädchen aus Kairo. "Es war schon ein Kulturschock", sagt die 17-Jährige. Sie kam hierher, als sie 13 war. Viel gibt es nicht in Neuzelle, ein paar Läden, die Klosterbrauerei, zwei Hotels und die imposante Klosteranlage, 1268 gestiftet von Heinrich dem Erlauchten, Markgraf von Meißen und der Ostmark, zum Seelenheil seiner verstorbenen Gattin Agnes. Obwohl 1817 säkularisiert, leben inzwischen im katholischen Pfarrhaus wieder sechs Zisterziensermönche. Oben auf dem Hügel trohnt die Kirche St. Marien. Von dort aus kann man über den barocken Klostergarten und die Orangerie nach Polen schauen - das Internat liegt nur sechs Kilometer von der historischen Oder-Neiße-Grenze entfernt. Im Sommer fluten Touristen die Klosteranlage, im Herbst und Winter ist es ruhiger. "Abends um sieben ist hier tote Hose, es gibt keine Nachbarn, nichts", sagt Campusleiterin Daniela Sahraoui, "den Eltern unserer Internatsschüler ist sehr wichtig, dass es hier überschaubar und sicher ist."

Im Internat lernen die Schüler, für andere zu sorgen und sich im Alltag gut zu organisieren

565 Schüler besuchen das Gymnasium und die Oberschule des Stifts Neuzelle, das der Träger Rahn Education aus Leipzig einen "Campus mit internationaler Ausrichtung" nennt. Zu Recht. Etwa 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler kommen nicht aus Deutschland, sondern aus dem benachbarten Polen - und aus dem angegliederten Internat. Von den 95 Jugendlichen, die dort leben, stammen die meisten aus China, aus Südkorea, aus Ägypten, Vietnam, Russland, Polen - insgesamt aus zwölf unterschiedlichen Nationen. Nur vier Jungen und Mädchen im Internat sind Deutsche. Nico Lauer (Name geändert) zum Beispiel, er ist Berliner. Als sich seine Eltern trennten, rutschten ihm die Noten in den Keller. "Seiner Mutter ist das alles über den Kopf gewachsen", erzählt Ronny Stößer, der seit Oktober 2019 das Internat leitet, "für ihn war es gut, in eine ganz andere Umgebung zu kommen." Nicos Internatsplatz wird über das Jugendamt finanziert. In Neuzelle hat er Fahrradfahren gelernt, schwimmen und Klavierspielen - eine Musik- und eine Kunstschule gibt es hier übrigens auch. Die Noten des Schülers haben sich stabilisiert, er fühlt sich wohl.

"Wir wollen kein Elite-Internat sein, sondern das Internationale stark machen", betont Campusleiterin Sahraoui. Den Campus im Stift Neuzelle kann man zu den vergleichsweise kostengünstigen Internaten und Schulen in privater Trägerschaft zählen: Das Schulgeld beträgt 185 Euro pro Monat, für das Internat fallen 2360 Euro an. Sonderkonditionen räumt der Träger Rahn Education Schülern von der Rahn-Schule in Kairo ein. Auch polnische Schüler zahlen weniger.

Internatsgymnasium mit Sprachschule: Zu dem internationalen Internat gehört auch eine Sprachschule.

Zu dem internationalen Internat gehört auch eine Sprachschule.

(Foto: Campus im Stift Neuzelle)

Anfangs ist es gerade für die internationalen Schüler nicht leicht, sich so weit weg von zu Hause zurechtzufinden. So ging es auch Jana, die über die deutsche Schule in Kairo, die sie besuchte, von Neuzelle gehört hatte. Und von ihrer älteren Schwester, die bereits in Deutschland auf diesem Internat war, als Jana anreiste. "Ich hatte trotzdem ein bisschen Angst. Es war alles sehr anders hier. Die vielen anderen Nationalitäten. Das Essen", sagt Jana. Inzwischen scheint die 17-Jährige angekommen zu sein. Sie spricht perfekt Deutsch, am Wochenende fährt sie mit Freundinnen und der Erlaubnis der Eltern mit dem Zug nach Berlin, zum Shoppen. Die große Schwester studiert inzwischen in München.

Schulleiterin Sahraoui, die selbst in Ägypten gearbeitet hat, kennt die Gründe für solche Anfangsschwierigkeiten: "Ägyptische Kinder und Jugendliche sind eigentlich nie allein. Ständig sind Cousinen und Cousins in der Nähe." Hier seien sie dann auf sich gestellt, abgesehen von ihrem Mitbewohner oder ihrer Mitbewohnerin. "In der Oberstufe gibt es sogar Einzelzimmer. Da fühlen sich viele einsam." Bei den chinesischen Schülern ist es umgekehrt, berichtet sie: Als Folge der Ein-Kind-Politik wachsen viele als Einzelkinder auf - und müssen sich erst daran gewöhnen, mit anderen zusammenzuleben.

Internatsgymnasium mit Sprachschule: Andere Länder, andere Lernmethoden. So sind es Schüler aus China oft nicht gewöhnt, sich aktiv in den Unterricht einzubringen. Das lernen sie in der brandenburgischen Schule: Diese jungen Asiatinnen engagieren sich gerade bei wissenschaftlichen Experimenten.

Andere Länder, andere Lernmethoden. So sind es Schüler aus China oft nicht gewöhnt, sich aktiv in den Unterricht einzubringen. Das lernen sie in der brandenburgischen Schule: Diese jungen Asiatinnen engagieren sich gerade bei wissenschaftlichen Experimenten.

(Foto: Campus im Stift Neuzelle)

Was Internatsleiter Ronny Stößer den jungen Menschen auf jeden Fall vermitteln will, formuliert er so: "Wir bringen den Jugendlichen bei, sich selbst zu organisieren", sagt er, "später im Studium müssen sie das auch können." Deshalb gehen die Erzieher mit den Internatsbewohnern einkaufen. Dabei lernen sie zum Beispiel, für eine Gruppe einzukaufen, nicht nur für sich allein. Die Schüler müssen ihre Zimmer selbst aufräumen, die Wäsche allein waschen. Donnerstag ist Putztag. Das fällt nicht allen leicht. "Viele hatten noch nie einen Putzlappen in der Hand, haben noch nie ihr Wasserglas selbst weggeräumt", sagt Ronny Stößer, "aber das kommt mit der Zeit".

Natalia Mollenhauer leitet die Sprachschule, noch so eine Besonderheit in Neuzelle. Hier können Schüler ohne oder mit nur wenigen Deutschkenntnissen innerhalb kurzer Zeit die Sprache lernen und werden auf die Schule vorbereitet. Bis zu 30 Wochenstunden umfasst der neunmonatige Intensivkurs. Die Sprachschüler leben im Internat. Wenn die Sprachkenntnisse gut genug sind, können sie aufs campuseigene Gymnasium oder die Oberschule wechseln. Dort gibt es ein großes Angebot an Deutsch-Förderstunden speziell für diese Schüler. "Wir sind alle Sprachlehrer", sagt Campusleiterin Sahraoui. "Gerade in Geschichte und Geografie. Das sind sprachlich sehr anspruchsvolle Fächer. Und wir sind sehr auf Europa konzentriert - darüber weiß ein Schüler, der aus China oder Russland kommt, zunächst ziemlich wenig." Geschichts- und Politiklehrer Tarek Maaß ergänzt noch einen Aspekt: "In einer internationalen Klasse muss man ganz anders unterrichten", sagt er, "chinesische Schüler sind es nicht gewohnt, angesprochen zu werden. Der Unterricht in China ist eher darauf ausgerichtet, Inhalte zu übernehmen." Er ermutigt sie dazu, sich selbst ein Urteil zu bilden. "Ich sehe uns als Kulturdolmetscher", sagt Schulleiterin Sahraoui, "Und wir wollen zeigen, dass man auch an einem Standort, wo man es nicht vermutet, im tiefsten blauen AfD-Land, Freiheit und Demokratie leben kann."

Der Andrang aus China ist groß. Ziel ist aber eine ausgewogene Mischung der Nationen

Die ganze Welt - oder große Teile davon - wie in einem Brennglas an einem Fleck. Was die Nachfrage angeht, könnte das Konzept in Neuzelle aufgehen. Sprachschulleiterin Mollenhauer, die selbst aus Sibirien stammt, ist auch für die Visa-Regelung zuständig. Als sie vor sieben Jahren in Neuzelle anfing, gab es gerade mal 30 visumspflichtige Schüler, jetzt sind es mehr als 80. So sind unter anderem die Anteile der Jugendlichen angestiegen, die aus China oder Südkorea kommen. "Wir könnten noch viel mehr Schüler aufnehmen, die Nachfrage ist riesig, gerade aus Asien", sagt sie. Allerdings strebt die Campusleitung Ausgewogenheit zwischen den Nationalitäten an. Deshalb ist Mollenhauer vor Kurzem auf eine Messe nach Moskau gereist, um dort russische Eltern über das Angebot des Internats zu informieren.

Jana aus Kairo wird im Jahr 2021 Abitur machen. An diesem Tag, ihrem großen Tag, wird sie wie alle Absolventen aus Neuzelle einen schwarzen Talar tragen. Wenn ihr Abi einen besseren Notendurchschnitt aufweist als 1,5, dann wird das eine goldene Schärpe verraten, sonst eine rote. Und dann geht es zurück nach Ägypten? Jana schüttelt den Kopf. Sie möchte Jura studieren, in Deutschland natürlich.

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