Internate für Grundschüler:Bitte Probe wohnen

Grundschulkinder im Internat unterzubringen, ist ein heikles Unterfangen. Deshalb sollten sich Eltern und ihr Nachwuchs die Anbieter genau anschauen: Worauf man achten muss.

Von Christiane Bertelsmann

Schon mit acht aufs Internat? Ist das nicht viel zu früh? Die meisten Internate in Deutschland nehmen erst Fünft- oder Siebtklässler auf. Nur einige wenige stehen auch Kindern im Grundschulalter offen. Doch auch für sehr junge Kinder kann ein Internat ein sehr guter Ort zum Aufwachsen sein.

Wenn ihr damals jemand vorwarf, sie würde ihre Kinder weggeben, wurde Stefanie Küster richtig sauer. "Ich bin Berlinerin, da sind mir schon die passenden Antworten eingefallen", sagt sie, "es stimmte ja nicht. Weggegeben im Sinn von abgeschoben habe ich meine Kinder nie. Emilie und Eric waren auf dem Internat und da gut aufgehoben." Jeden Abend telefonierten Stefanie Küster und ihr Mann Carsten mit Emilie und Eric, jedes zweite Wochenende, jede Ferien verbrachte Familie Küster gemeinsam auf ihrem Schiff, der MS Zenit. Stefanie und Carsten Küster sind Binnenschiffer, sechste und siebte Generation. Die MS Zenit ist ihr Zuhause. Das prägt. Schon lange bevor bei Emilie, der älteren der beide Küster-Kinder, die Einschulung anstand, überlegte die Mutter, wie sie das mit der Schule regeln würde: Die Kinder zu den Großeltern geben? Selbst an Land ziehen, quasi als alleinerziehende Mutter? Alles ungünstig. Also ein Internat.

Die Wahl der Küsters fiel auf das Nordsee-Internat in St. Peter-Ording. Die wenigen anderen Internate, die Kinder im Grundschulalter aufnehmen, sagten ihnen nicht zu oder lagen nicht in ihrem Fahrgebiet, das sich von Duisburg aus nach Norden erstreckt. Emilie war sechs Jahre alt, als sie in ein Gebäude namens "Sonnenhaus" im Nordsee-Internat zog, zusammen mit acht anderen Grundschulkindern. Zwei Jahre später kam ihr Bruder Eric nach. "Am ersten Abend ohne Emilie habe ich mich zu Hause an Bord aufs Bett geworfen und geweint", sagt Stefanie Küster. "Aber man gewöhnt sich." Das galt auch für ihre Kinder. Klar, gerade in der Anfangszeit gab es Höhen und Tiefen. "Wenn es für die Kinder zu schwierig geworden wäre, hätte ich die Reißleine gezogen und wäre an Land umgesiedelt", sagt die Binnenschifferin.

Keiner Mutter, keinem Vater fällt es leicht, Sohn oder Tochter ins Internat zu geben, wenn die Kinder noch so jung sind. "Viele Eltern von Grundschulkindern sind geplagt vom schlechten Gewissen", sagt Burkhard Werner. Er ist Internatsleiter des Lietz-Internatsdorf Haubinda in Thüringen, einem der wenigen Internate in Deutschland, die bereits Grundschulkindern offen stehen.

"Gerade bei so jungen Kindern ist das Probewohnen unabdingbar", sagt Wolfgang Tumulka, Pädagoge und Gründer der EURO-Internatsberatung. In Haubinda wie auch in vielen anderen Internaten testen Kinder in der Probewohnwoche, ob der Zeitpunkt jetzt schon der richtige ist. "Wir werden sehr misstrauisch, wenn Kinder kein Heimweh haben", sagt Internatsleiter Werner. "Das ist ein Indiz dafür, dass es Probleme gibt zwischen Kindern und Eltern, über die man lauter nachdenken muss." Auch Rüdiger Häusler, Stiftungsleiter des Internats Landheim Schondorf am Ammersee, wird bei einem Kind ohne Heimweh hellhörig: "Heimweh an sich ist nichts Schlechtes, es ist ein Zeichen dafür, dass man etwas vermisst."

Internate für Grundschüler: Illustration: Stefan Dimitrov

Illustration: Stefan Dimitrov

Normalerweise nehmen Internate in Deutschland Kinder frühesten ab der fünften Klasse auf. Die Häuser, die Grundschulkinder aufnehmen, haben sich aufgrund der Nachfrage von Eltern dafür entschieden. Werbung machen sie keine dafür. Die meisten haben nur einige wenige Plätze für Grundschulkinder, meist weniger als zehn. Wie im Internatsdorf Haubinda oder dem Pädagogium in Baden-Baden gehört oft eine internatseigene Grundschule dazu, die auch Kindern aus der Umgebung, den Tageskindern, offen steht.

In Haubinda leben die Grundschulkinder in einem Extra-Haus, separiert von den Älteren. Es ist das ehemalige Wohnhaus von Internatsgründer Herrmann Lietz. Die Wände sind in einem warmen Gelb gestrichen, nebenan im Spielhaus dürfen die Kleinen toben, und Tag und Nacht ist eine Betreuung für die Kinder da. "Wir wollen den Kindern Nestwärme vermitteln, das gehört zu den pädagogischen Prinzipien unseres Gründers und überzeugt uns noch heute", sagt Burkhard Werner, "für mich als Pädagogen ist das nicht die ideale Form, wie Kinder in diesem Alter aufwachsen sollten. Aber es ist nach dem eigenen Zuhause die zweitbeste Lösung."

Der ideale Platz für Kinder im Grundschulalter sei daheim, sagt auch Rüdiger Häusler aus dem Landheim Schondorf in Oberbayern, seit 25 Jahren Pädagoge und selbst Vater von vier Kindern, "Wir können nur eine Alternative sein." Das ist zugegebenermaßen eine sehr idyllische Alternative, im Fall von Schondorf ein großer grüner Campus, behütet und dennoch offen, ohne Mauern. Das Haus, in dem die Grundschulkinder leben, liegt direkt an neben einem Bach. Das ist einer der Lieblingsorte der Kleinen. Zum See sind es nur ein paar Schritte. Dass sie überhaupt einige wenige Plätze für Grundschulkinder anbieten, sei aufgrund der Marktnachfrage gewesen, sagt auch Häusler. Diese Eltern hätten oft einen globalen Lebensentwurf und ein internationales Arbeitsumfeld, nicht selten an Orten, wo sich ein Kind nicht frei bewegen könne, etwa, weil die Kriminalität zu hoch sei. Das ist am Ammersee-Westufer natürlich ganz anders.

Internate im Überblick

Internate, deren Personal über Expertise in der Betreuung von Kindern im Grundschulalter verfügt, gibt es in verschiedenen Bundesländern: Das Lietz-Internatsdorf Haubinda in Thüringen sowie die Jugendhilfeeinrichtung mit Internat Gut Böddeken in Nordrhein-Westfalen nehmen jüngere Schützlinge in ihre Obhut, ebenso das Pädagogium Baden-Baden in Baden-Württemberg. In einer anderen Region Baden-Württembergs betreut die in der Nähe von Ulm gelegene Urspringschule Kinder ab der dritten Klasse. Auch solche Kinder im Grundschulalter, die unter einer chronischen Erkrankung leiden, nimmt das Nordsee-Internat im schleswig-holsteinischen St. Peter-Ording auf. Über Erfahrung in der Ausbildung und Erziehung der jüngeren Schüler verfügt ebenfalls das Internat Landheim Ammersee in Oberbayern.

Auch Eltern, die so sehr beruflich eingespannt sind, dass sie nicht genügend Zeit für ihre Kinder haben, suchen nach Internatsplätzen. Oder Mütter und Väter, die an unterschiedlichen Orten arbeiten, so wie die Küsters mit ihrem Binnenschiff. Auch eine belastende Familiensituation oder eine chronische Krankheit kann ein Grund sein. Das Nordsee-Internat etwa steht explizit Kindern offen, die Diabetes oder Asthma haben. "Diese Kinder brauchen einfach mehr medizinische Betreuung. Das können berufstätige Eltern oft nicht leisten", sagt Elternberaterin Dana Hamann, "wir haben auch Kinder, deren Eltern erkrankt sind, und die sich für ihre Kinder wünschen, aus dieser für sie sehr belastenden Situation rauszukommen."

Dennoch - ein Kind im Grundschulalter ins Internat zu schicken - ist das nicht zu früh? Volker Ladenthin ist Erziehungswissenschaftler und Professor an der Universität Bonn und forscht zu Internaten. "Die Entwicklung von Kindern wird dann gefördert, wenn sie konstante und kontinuierliche Sozialbindungen haben", betont Ladenthin. "Das sollten, aber müssen nicht die Eltern sein. Wenn diese sozialen Bindungen fest und gesichert sind - und das Kind es will, ist ein geeigneter Zeitpunkt für das Internat." Wichtig sei, bei der Auswahl eines Internats für sehr junge Kinder besonders darauf zu achten, dass das Betreuungspersonal professionell ausgebildet und unter den Erziehern wenig Fluktuation ist.

Emilie und Eric Küster sind gut durch die Internatszeit gekommen. Inzwischen sind die beiden 17 und 19 Jahre alt und haben ihren Mittleren Schulabschluss geschafft. Momentan leben beide wieder auf der MS Zenit, denn sie machen eine Ausbildung als Binnenschiffer bei ihren Eltern. Mutter Stefanie Küster ist darüber nicht unglücklich: "Ich habe das Gefühl, auch wenn Emilie und Eric jetzt schon so gut wie erwachsen sind: Sie holen gerade etwas Zeit mit uns nach."

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