Süddeutsche Zeitung

Internat im Schwarzwald:Wofür brennst du?

Am privaten Gymnasium Birklehof haben die Schülerinnen und Schüler viele Möglichkeiten, ihre Vorlieben zu entdecken, bevor sie sich für ein naturwissenschaftliches, musikalisch-künstlerisches oder sprachliches Profil entscheiden. Bei der Erziehung spielen soziale Kompetenzen eine besondere Rolle.

Von Stephanie Schmidt

Strafe Internat? Wenn Henrik Fass mit Eltern und deren Tochter oder Sohn ein Aufnahmegespräch führt und im Dialog mit dem Kind diese Vorstellung auch nur aufblitzt, dann rät der erfahrene Pädagoge von einer Ausbildung im Internat ab. Der Leiter der Internatsschule Birklehof in Hinterzarten in Baden-Württemberg hält es für wichtig, dass nicht allein die Eltern sie anstreben. Entscheidend für ihn ist, dass der Jugendliche selbst am Birklehof leben will. Das und vieles mehr will er beim Erstgespräch ergründen - etwa, ob ein Kind fürs Gymnasium geeignet ist. Und dafür nehme er sich jedes Mal viel Zeit, sagt Fass beim Gespräch in dem großen Konferenzzimmer im Haupthaus von 1923, das auf einem Hügel steht und zu dem ein markanter Turm gehört.

In dem lichtdurchfluteten Konferenzzimmer in der Form eines Oktagons finden auch die Aufnahmegespräche statt. Von ihm gelangt man auf eine Terrasse mit Panoramablick auf das acht Hektar große Privatschulgelände mit Wiesen, knorrigen Linden und Buchen, Sport- und Spielplätzen und Fichtenwäldern am Horizont. Das Internat liegt außerhalb des Zentrums von Hinterzarten, einem belebten Kurort.

Er achte genauso auf die "Interessen, Berufsvorstellungen, Arbeits- und Sozialverhalten und das Engagement" des Kindes wie auf dessen "Sorgen, Hoffnungen und schlechten Schulerfahrungen", erläutert der Schulleiter des privaten Gymnasiums mit staatlicher Anerkennung. Fass ist gertenschlank und trägt ein elegantes Sakko in changierenden Blautönen. "Es geht mir nicht darum, nur Hochleister aufzunehmen, sondern um junge Menschen, die bereit sind, gefordert zu werden, die sich auf das Denkenlernen genauso einlassen wie darauf, Verantwortung zu übernehmen", erläutert der Lehrer für Philosophie, Geschichte und Religion.

150 Internatsschüler leben zurzeit in Hinterzarten, hinzu kommen 70 Tagesschüler aus der Umgebung. Die meisten Internatsschüler stammen aus dem deutschsprachigen Raum - aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, dem Elsass oder Luxemburg, einige aus Russland, der Ukraine, Korea oder Vietnam. Wie andere Internate auch beschränkt der Birklehof den Anteil nicht-deutschsprachiger Schüler: "Bei uns gilt die Regelung, dass wir höchstens 20 Prozent nicht-deutschsprachige Internatsschüler aufnehmen", sagt Gwendolyn Wellmann, 46, Leiterin der Sekundarstufe I. "Ansonsten würde die Qualität des Unterrichts leiden", fügt die Fachlehrerin für Musik und Englisch hinzu. Das liege auch an unterschiedlichen Vorstellungen von einer guten Lernkultur: Hierzulande bekommt man Lob und gute Noten, wenn man sich aktiv in den Unterricht einbringt, was längst nicht in allen Ländern als erstrebenswert gilt.

Wer aufgenommen wird, was frühestens nach der Grundschulzeit möglich ist, profitiert von persönlicher Betreuung - das Verhältnis von Lehrern zu Schülern ist 1:5 - sowie von kleinen Klassen. Sie weisen eine Klassenstärke von sechs bis maximal 19 Jugendlichen auf - meist sind es weniger. In der Orientierungsstufe, den Klassen fünf bis sieben, sollen die Birklehofer oder B-Hofer, wie sich die Schüler nennen, ihre individuellen Stärken und Schwächen kennenlernen. Für die Jüngsten gibt es regelmäßig Spielstunden, in denen sie herausfinden können, ob sie zum Beispiel ein besonderes Talent für Sport oder Musik haben.

Wer in Mint-Fächern begabt ist, profitiert von speziellen Förderprogrammen

In der Profilstufe, den Klassen acht bis zehn, entscheiden sich die Jugendlichen dann für einen von drei Zweigen, der ihrer Begabung entspricht: Englisch und Spanisch sind zwei von drei Fremdsprachen des sprachlichen Profils. Am Birklehof gibt es verschiedene Möglichkeiten, auch im Alltag Englisch zu sprechen und sich mit Native Speakers zu unterhalten. Wer sich für das musisch-künstlerische Profil entscheidet, der verbringt viel Zeit mit Vokal- und Instrumentalunterricht in der hausinternen Musikschule und tritt im Konzertsaal des Internats auf. Zu der fächerübergreifenden musikalischen Ausbildung gehören auch Theater, Tanz und Film.

Mirjam Liebl hat sich für das naturwissenschaftliche Profil entschieden. Die 17-Jährige aus der Oberpfalz nimmt zudem an einem besonderen Förderprogramm im Bereich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (Mint) teil, das der Birklehof in Kooperation mit dem bundesweit agierenden Verein zur Mint-Talentförderung anbietet. Ähnliche Programme offerieren nur wenige Internate in Deutschland, etwa das Internat Louisenlund in Güby an der Schlei. Der Verein und der Birklehof bestärken begabte Jugendliche darin, bei internationalen Wettbewerben mitzuwirken. "Ich habe zum Beispiel an der internationalen Bio- oder Chemie-Olympiade teilgenommen, auch bei ,Jugend forscht'", erzählt Mirjam Liebl, die Chemie, Französisch und Deutsch als Leistungskurse gewählt hat. Am Birklehof gilt G 8, das Abitur machen die B-Hofer also bereits nach der zwölften Klasse.

Auch bei der First Lego League hat die Elftklässlerin mitgemacht - einem Forschungs- und Roboter-Wettbewerb für Jugendliche. Robotik und Elektronik sind Schwerpunkte im Mint-Profil des Birklehofs. Mirjam führt in einen Werkraum, um zu zeigen, was das konkret bedeuten kann: Dort ist ein großer Lego-Parcours mit Robotern ausgestellt, die Legosteine aufladen können und mitsamt ihrer Fracht Hindernisse überwinden müssen. Die Schüler, die den Parcours bauten, stellten ihn unlängst an einem der sechs Profilabende des Internats pro Jahr vor. Ein Profilabend ist eine Art Leistungsschau für eine der drei Fachrichtungen. "Wir wollen, dass Schülerinnen und Schüler lernen, sich zu zeigen und zu präsentieren, was sie gemacht haben", erklärt Wellmann. Dabei geht es um ganz unterschiedliche Themen: Bei einer Profil-Veranstaltung waren die Schüler dazu eingeladen, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen. Dafür präsentierten sie Filmclips, Plakatwände, Quizze und richteten eine Leseecke ein.

"Wolfsburg" heißt das Wohnhaus der Elft- und Zwölftklässler

Mirjam Liebl gefällt es besonders, ihr Internatsgelände vorzustellen, deshalb engagiert sie sich im Aufnahmeteam und führt angehende neue Mitschülerinnen und Mitschüler sowie deren Eltern über das hügelige Gelände des Birklehofs. Kinder und Jugendliche wohnen in zwölf Häusern, die aus ganz unterschiedlichen Dekaden stammen. "Nach dem Abitur würde ich gern ein FÖJ machen, ein Freiwilliges Ökologisches Jahr in der Meeresforschung. Und danach Geoökologie studieren", sagt die Gymnasiastin auf dem Weg zu einem Gebäude, das eindeutig das älteste Bauwerk auf dem Gelände ist: ein 500 Jahre alter Schwarzwaldhof mit der für diese Region typischen Holzschindel-Eindeckung - der Altbirklehof. "Da drinnen wohnt die Orientierungsstufe", erklärt Mirjam. Einige Häuser haben lustige Namen, wie etwa das "Cafasta", das bedeute "Café alter Fahrradständer". Ein Sammelsurium von alten Sofas, Bistrotischen und Stühlen charakterisiert das Schülercafé, in dem es nach altem Bratfett riecht. "Wir machen hier Videoabende und backen Waffeln", erzählt Mirjam. Die "Wolfsburg" halten Elft- und Zwölftklässler besetzt. "Um 22 Uhr müssen die Älteren in ihrem Haus sein, am Samstag um 23 Uhr", sagt die Mint-Stipendiatin. Die Fünft- bis Siebtklässler jeweils eine Stunde früher.

Reformpädagogik nach Kurt Hahn

Zum Leitbild des Birklehofs gehöre auch Weltoffenheit, sagt Schulleiter Henrik Fass, und verweist in diesem Zusammenhang auf Kurt Hahn, der das Internat Schloss Salem und 1932 den Birklehof als dessen Schwesterschule sowie weitere pädagogische Einrichtungen gründete. Der Reformpädagoge engagierte sich auf verschiedenen Kontinenten und machte sich auch für ein internationales Abitur, das International Baccaulaureate (IB), stark. Er vertrat unter anderem die Ansicht, jedes Kind solle die Chance erhalten, sich selbst zu erkennen, um seine "grande passion" entdecken zu können. Die Schule in Hinterzarten gehört der Organisation Round Square (RS) an - ein Verbund von circa 200 Schulen auf der ganzen Welt, die die Pädagogik von Kurt Hahn praktizieren. Jeder B-Hofer hat die Möglichkeit, eine dieser Schulen während eines Auslandsaufenthalts kennenzulernen. Wegen der Krise war das allerdings in jüngster Zeit nur eingeschränkt möglich.

Prägend für das Leitbild des Birklehofs ist auch soziales Engagement: Alle Internatsschüler müssen sich mindestens einmal pro Woche ehrenamtlich engagieren, etwa beim Schulsanitätsdienst, in der Schulbibliothek oder in einem Seniorenheim.

Der Verein "Schule Birklehof" ist gemeinnützig, somit kommen sämtliche Einnahmen und Spenden der Bildung und Erziehung der Schüler zugute. In den nächsten zwei Jahren will der Schulverein zwei große Bauvorhaben mit einem Aufwand von mehreren Millionen Euro realisieren. Geplant ist ein weiteres Gebäude zur Unterbringung von Internatsschülern. Zu dem Projekt gehören auch Lernräume und Wohnungen für Lehrerfamilien. Im Zuge der Sanierung der Sportanlagen entsteht eine neue Sporthalle.

Der Erziehungs- und Pensionsbeitrag wird sich für Internatsschüler im Schuljahr 2022/2023 auf 3605 Euro pro Monat belaufen. Hinzu kommen verschiedene Nebenkosten, etwa für Fachlektüre, Arbeitsmaterial oder für privaten Instrumental- und Gesangsunterricht. Für Tagessinternatsschüler beträgt der monatliche Mindestbeitrag 50 Euro, der Regelsatz 175 Euro - die Gebühren hängen vom Einkommen der Eltern ab. Hinzu kommen die Ganztagsleistungen für das jeweilige Profil und die Kosten für die Verpflegung.

Der Birklehof bietet unterschiedliche Stipendienprogramme an - mit Fördersummen von einigen Hundert bis mehreren Tausend Euro. ssc

Und wer kontrolliert das? Die B-Hofer wohnen getrennt nach Geschlechtern und Jahrgangsstufen mit einer Betreuerin oder einem Betreuer, dem sogenannten Hauserwachsenen, zusammen. Im Zusammenleben sei es wichtig, die Jugendlichen "als eigenständige Persönlichkeiten" anzuerkennen, sagt Rolf Schuster, 65, der bis Ende 2021 als Internatsleiter am Birklehof tätig war und sich zum Jahreswechsel in den Ruhestand verabschiedet hat. Der Sport- und Biologielehrer verfügt über eine mehr als 35-jährige Erfahrung als Hauserwachsener. Mädchen an der Schwelle zur Pubertät ordne man am Birklehof bewusst eine Pädagogin zu - und Jungs einen Pädagogen, weil man unterschiedlich mit ihnen kommunizieren müsse. Mädchen hätten einen hohen Gesprächsbedarf, ganz im Gegensatz zu pubertierenden Jungen. Diese könne man am besten "mit Aktionen abholen".

Am Birklehof sind die Lehrerinnen und Lehrer auch als Erzieher im Einsatz

Am Birklehof sind es die Lehrkräfte selbst, die sich außerhalb des Unterrichts in der jeweiligen Hausgemeinschaft um die Jugendlichen kümmern. An einigen anderen Internaten sind die Aufgaben von Lehrern und Erziehern hingegen strikt voneinander getrennt. Schulleiter Fass, der selbst auf dem Internatsgelände wohnt, setzt auf das Lehrer-Erzieher-Prinzip und sieht darin an seiner Schule keine Gefahr für das Kindeswohl. "Wenn Lehrer und Erzieher verschiedene Personen sind, besteht die Gefahr, dass das Schulleben und die Internatsgemeinschaft zu stark voneinander abgetrennt sind", erklärt der 46-Jährige. Und nennt weitere Vorteile des Lehrer-Erzieher-Modells: Die Birklehofer würden auf diese Weise den Lehrer als Privatmensch erleben; zudem kenne der jeweilige Hauserwachsene das Potenzial seines Schützlings aus dem Unterricht und könne ihn auch in der Wohngruppe entsprechend fördern.

Egal welches Betreuungssystem man wähle, betont Fass: "Entscheidend ist, dass der Schutz und die professionelle Begleitung des Kindes an erster Stelle stehen." Man kann seinem Wohngruppen-Betreuer auch mal sein Herz ausschütten, aber dafür gibt es auch den Mentor, den jeder Schüler sich selbst aussucht - diejenige der 40 Lehrkräfte, zu der er das größte Vertrauen hat. "Ich rate den Schülerinnen und Schülern, ihren Mentor mit Bedacht zu wählen, denn er begleitet einen über einen langen Zeitraum, in der Regel bis zum Abitur." Hauserwachsene dagegen wechseln während der Ausbildungszeit.

Wer am Birklehof lebt, muss sich an viele Regeln halten. Das klingt schlimmer, als es ist: Viele von ihnen sind mit besonderer Fürsorge verbunden: So beginnt jeder Schultag um 7.55 Uhr mit dem Silentium - einer begleiteten Übungszeit, in der die Schüler keine allgemeinen Hausaufgaben, sondern individuell für sie ersonnene Arbeitsaufträge erledigen. Die Kinder üben dabei allein oder in der Gruppe. Schüler der fünften bis siebten Klasse müssen ein Instrument erlernen. Eine weitere Regel: Um Sport einen großen Bogen machen, das geht am Birklehof nicht. Zumal man in der unmittelbaren Umgebung Ski fahren, klettern oder Mountainbike-Touren unternehmen kann. "Wenn wir sehen, dass sich ein Schüler um Sport drückt, werden wir mit ihm darüber sprechen", sagt Fass.

Eine gute Diskussionskultur spielt an dieser Privatschule eine große Rolle

Verschiedene feste Termine sollen das Gemeinschaftsgefühl stärken und Schülern die Möglichkeit geben, eigene Ideen in der Internatsgemeinschaft zu diskutieren und zu realisieren. Donnerstags veranstaltet der Birklehof Exkursionen mit unmittelbarem Bezug zu den gelehrten Fächern. Das kann der Besuch bei einem Geigenbauer, ein Museumsbesuch oder eine Auenwald-Erkundungstour sein.

Die Schulversammlung, die jeden Montag stattfindet, ist für sämtliche Schüler Pflicht. Dabei steht immer ein bestimmtes Thema auf dem Programm, zum Beispiel ein Vorlesewettbewerb, eine Podiumsdiskussion oder auch die Präsentation eines selbstgedrehten Films. Darüber soll dann diskutiert werden. "Im Zentrum stehen Austausch und Begegnung", so Fass. Alle zwei Wochen findet die Internatskonferenz statt. Dabei geht es um verschiedene Themen aus dem Internatsalltag. An ihr nehmen die Lehrer-Erzieher der Wohngruppen und acht Gymnasiasten teil, die von ihren Mitschülern für diese Aufgabe ausgewählt wurden. Klar, dass im vergangenen Jahr die Corona-Krise einiges an Diskussionsstoff lieferte. Ein großes Thema war zum Beispiel: Dürfen Schüler, die geimpft sind, im Turmkeller, dem Partyraum für die Oberstufe, feiern und ins nahegelegene Freiburg fahren oder nicht? Die Jugendlichen entschieden sich für Verzicht und gegen eine Zweiklassengesellschaft im Internat.

Wer zu Hause wenig mit sich und der Welt anzufangen wusste und nach Hinterzarten kommt, dürfte bald feststellen: Monotonie war gestern. Internats- und Tagesschüler haben die Auswahl zwischen 100 Arbeitsgemeinschaften. Für zwei verschiedene Aktivitäten pro Woche muss sich jeder Birklehofer entscheiden. Man kann so unterschiedliche Dinge tun wie Hockey spielen, Aikido erlernen, töpfern, schreinern, Altgriechisch erlernen oder an einem Theaterprojekt mitwirken. Die Gymnasiasten dürfen auch selbst eine Arbeitsgemeinschaft (AG) gründen.

Julia Witzku hat eine spezielle AG ins Leben gerufen - die Schülerzeitung des Birklehofs. Die 18-Jährige veröffentlichte schon verschiedene Artikel in deutschen Tageszeitungen. Vor Kurzem ist sie von einem Internatszimmer in ein anderes umgezogen, das ist am Birklehof ganz normal. "Als Internatsschüler ist man überall nur zu Gast, auch im eigenen Elternhaus", meint sie. Andererseits bringt es Freiheit, wenn man sich an keinen Ort stark gebunden fühlt. Unabhängigkeit kann man schließlich gut brauchen, wenn man Journalistin werden will wie sie.

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