Internat für Schulschwänzer:Flucht unmöglich

Die Zahl der Schulschwänzer steigt drastisch. In Berlin gibt es jetzt ein spezielles Internat für Jugendliche, die Unterricht kategorisch ablehnen. Wer hier landet, muss strenge Auflagen erfüllen.

Titus Arnu

Das Schild vor der Playstation soll abschreckend wirken: "Erst Schule, dann spielen!" In einem Kaufhaus in Berlin-Neukölln herrscht schon morgens um zehn Andrang in der Abteilung mit den Wii-, X-Box- und Playstation-Spielen. Fast alle, die hier herumschlendern, sind minderjährig. Elektronikmärkte wie Saturn oder Media Markt schalten ihre Spielkonsolen daher erst nachmittags ein.

100.000 Schueler in Deutschland machen regelmaessig blau

Die Zahl der Kinder, die keine Lust auf Schule haben und deshalb gar nicht erst hingehen, steigt kontinuierlich an. In Märkten für Unterhaltungselektronik bleiben inzwischen am Vormittag die Spielkonsolen ausgeschaltet, der Andrang war einfach zu groß.

(Foto: ddp)

Eigentlich müssten die Jugendlichen um diese Zeit ja in der Schule sein. Eigentlich. Doch bis zu 300.000 Schüler machen nach Angaben des Lehrerverbandes GEW regelmäßig blau. Schwänzer gibt es wahrscheinlich seit Erfindung der Schule, doch das Problem nimmt drastisch zu. Das Deutsche Jugendinstitut spricht von "epidemischen Formen": Nach einer Untersuchung aus dem Jahr 2002 fehlen etwa eine halbe Million Schüler in Deutschland regelmäßig im Unterricht.

In Bayern griff die Polizei im Schuljahr 2009/2010 mehr als 2200 Schulschwänzer auf - die Beamten kontrollieren vormittags regelmäßig beliebte Jugendtreffpunkte, etwa in Fußgängerzonen, vor Elektronikmärkten und Fastfood-Restaurants, und bringen schulpflichtige Minderjährige mit dem Streifenwagen zum Unterricht. In Hamburg werden alle Schulschwänzer, zu deren Familie die Schule keinen Kontakt aufnehmen kann, an eine zentrale Stelle des Senats gemeldet. Ein Richter im sächsischen Görlitz verurteilte eine notorische Schulschwänzerin gar zu zwei Wochen Arrest.

Während die Schulbehörden in Hamburg oder Bayern auf hartes Durchgreifen mit Hilfe der Polizei setzen, hat man in Berlin im Schuljahr 2009/2010 einen bundesweit einmaligen Modellversuch gestartet: Notorische Schwänzer werden in einem Internat gezielt gefördert und psychologisch betreut. In Neukölln gibt es besonders viele "schuldistanzierte" Jugendliche, wie es im Fachjargon heißt, manche Jugendliche gehen tage- und wochenlang nicht in die Schule. 25 Prozent der Kinder aus Migrantenfamilien brechen in diesem Bezirk die Schule ab. Die Lehrer stehen oft vor halbleeren Klassen.

Die Einrichtung heißt "Leben und Lernen" und liegt auf dem Gelände des ehemaligen Kinderheims "Haus Buckow", mitten in einem Park, recht weit entfernt von den so genannten Problemkiezen Neuköllns. Sieben Jugendliche zwischen 12 und 16 Jahren sind dort derzeit untergebracht, fünf Jungen und zwei Mädchen; die meisten von ihnen kommen aus Familien mit Migrationshintergrund. Bei Bedarf ist eine Erweiterung auf 16 Plätze geplant, doch die Resonanz auf das Angebot ist noch nicht so groß, vielleicht, weil es noch nicht so bekannt ist, vielleicht aber auch, weil die Aufnahme in ein Internat aus Sicht eines Schulverweigerers zunächst nicht gerade verlockend klingt.

Die Schüler haben im Internat einige Pflichten: Während der Schulzeit bleiben sie von Sonntagabend bis Freitagnachmittag rund um die Uhr in der Obhut von Betreuern und Lehrern. Auch für die Hälfte der Schulferien gibt es ein Betreuungsprogramm. Internet, Alkohol und Drogen sind tabu, Gruppendiskussionen, Hausarbeit und Zweierzimmer sind Pflicht. Das ist für die Schüler eine harte Umstellung: "Die Jugendlichen hatten bisher ihre eigenen Regeln", sagt Ronny Mildner, der das Schulwohnprojekt pädagogisch betreut. Lange Zeit war es für sie normal, am Tag zu schlafen und nachts unterwegs zu sein. Nun müssen sie um 6:30 Uhr aufstehen. Die Erfahrungen seien dennoch überwiegend positiv, sagt Mildner. Ein Junge konnte bereits nach einem Schuljahr auf eine Regelschule wechseln.

Anfangen bei null

Wer in das Internat in Neukölln einzieht, entscheidet ein Aufnahmegremium, dem Vertreter des Jugendamts, der benachbarten Schule an der Windmühle und des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks angehören. Im Prinzip kann sich jeder um einen Platz bewerben. Voraussetzung: Das Jugendamt muss einen Bedarf an Hilfe zur Erziehung feststellen, zudem dürfen die Betroffenen kein Suchtproblem haben. 2400 Euro kostet ein Platz im Monat, die Kosten übernehmen das Jugendamt und die Eltern entsprechend ihrer Einkommensverhältnisse.

Das Ziel der Einrichtung ist es, die Schulschwänzer so weit zu bringen, dass sie wieder in einer Regelschule integriert werden können und den für sie bestmöglichen Schulabschluss schaffen. Das Internat soll nur eine Übergangslösung sein. Doch bis in die Regelschule ist es oft ein weiter Weg. Die meisten Jugendlichen, die ins Internat kommen, brauchen erst einmal eine Motivation, überhaupt etwas zu lernen, schließlich war für sie das Herumgammeln auf der Straße und in Einkaufszentren eher der Normalfall.

"Die Eltern empfinden es als Privileg, dass ihre Kinder ins Internat gehen dürfen", sagt Betreuer Ronny Mildner - obwohl es sich eher um eine Betreuungseinrichtung handelt als um ein Internat. Bei den Schülern müsse erst einmal der Wissensstand überprüft werden, sagt Marion Seidel, Leiterin des schulischen Bereichs, "die Anforderungen sind eher gering". In vielen Fällen müssen die Lehrer praktisch bei null anfangen. Der Unterricht beschränkt sich anfangs auf lediglich vier Stunden am Tag, dann ist es schon vorbei mit der Konzentrationsfähigkeit. Eine Hauptaufgabe der Pädagogen sei es, die Schüler erst einmal wieder "gruppenfähig" zu machen, sagt Lehrerin Marion Seidel. Die Frage sei am Anfang nicht: Wie löse ich eine Gleichung mit zwei Unbekannten, sondern: Wie führe ich ein Heft?

Ähnlich mühsam sei es manchmal im Wohnbereich, sagt Erzieher Ronny Mildner. Die Jugendlichen müssen sich, viele von ihnen zum ersten Mal im Leben, an eine feste Tagesstruktur, regelmäßige Arbeit und strenge Regeln gewöhnen. Es wird gemeinsam gekocht und geputzt, auch die Freizeit verbringen sie gemeinsam. Bei allen Aktivitäten herrscht "eine Art freiwilliger Zwang", sagt Mildner. In erster Linie soll verhindert werden, dass die Jugendlichen wieder auf der Straße landen. Darum begleitet sie ein Erzieher morgens vom Wohnhaus in das 50 Meter entfernte Schulgebäude und übergibt sie dem Lehrer - keine Chance zur Flucht.

Die Schüler sollen nicht mehr mit Journalisten reden, nachdem einige Boulevardmedien reißerisch über die Jungs aus dem "Schulschwänzer-Knast" berichtet hatten. Eingesperrt sind die Jugendlichen nicht, aber ihr Alltag ist streng geregelt. In der Eingewöhnungsphase sind sogar Handys untersagt, danach sind sie unter Auflagen erlaubt. Besuch von Freunden ist nicht möglich, ein Nachmittag ist für Besuche von Familien reserviert - und für die Eltern der Jugendlichen in den ersten Monaten verpflichtend. Nur die Wochenenden verbringen die Schüler zu Hause.

Das klingt hart, aber die strenge Erziehung scheint sich zu lohnen. Ein Junge, der monatelang die Schule nicht besucht hatte, geht nun auf eine öffentliche Schule, wohnt aber weiter im Internat. Er fährt jeden Tag quer durch die Stadt und ist allen Versuchungen ausgesetzt, die Berlin so zu bieten hat. Er kommt jeden Tag wieder zurück ins Internat. Freiwillig.

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