Integrative Schule Kirchseeon:"Das Anstarren hört auf"

Das Gymnasium in Kirchseeon hat eine Klasse mit geistig Behinderten aufgenommen - für Bayern eine Sensation, denn Integration findet hier, wenn überhaupt, nur an den Grundschulen statt.

T. Schultz

Ein buntes Schwungtuch schwebt durch die Aula des Gymnasiums, einige Kinder halten es an Schlaufen fest, während andere unter ihm hindurchlaufen. Luftballons hüpfen über das Tuch und erzeugen einen zarten Wind, der den Fünftklässlern die Ponyfransen aus dem Gesicht pustet. Die Schüler kichern, Anna, Josef, Amelie und all die anderen, die im Kreis stehen.

Integratives Gymnasium; Haas

Eine Schule in Bewegung: Gymnasiallehrerin Margarete Barthelmes hilft Josef beim Drehen im Rhönrad.

(Foto: Foto: Haas)

Es ist ein Moment, in dem nicht wichtig ist, wie die Schüler eingeteilt werden: Gymnasiasten hier, Sonderschüler dort. Sie stehen hier und lachen und sind vor allem eines: Kinder. Das Gymnasium in Kirchseeon, einem kleinen Ort östlich von München, hat in diesem Schuljahr eine Klasse mit acht geistig Behinderten aufgenommen. Für Bayern ist das eine kleine Sensation, denn Integration findet in diesem Land, wenn überhaupt, vor allem an den Grundschulen statt.

Die Direktorin Gabriele Söllheim spricht von einem "wunderbaren Pilotprojekt". Ihr Gymnasium, gerade erst gebaut und eröffnet, soll offen sein für Neues, und so kooperiert es nun mit einer Sonderschule.

"Sie werden eingewiesen wie in eine Anstalt"

Kinder, die das Down-Syndrom haben, besuchen in Deutschland zumeist eine Förderschule. Das ist der offizielle Name für die Sonderschulen, die es in anderen Staaten längst nicht mehr gibt. Im deutschen Schulsystem werden Behinderte noch immer an den Rand gedrängt, auch gegen den Willen der Eltern können sie zum Besuch einer Sonderschule gezwungen werden.

"Sie werden eingewiesen wie in eine Anstalt", sagt Hans Wocken, emeritierter Professor der Universität Hamburg. Der Experte für Behindertenpädagogik setzt sich seit Jahren dafür ein, dass behinderte und nicht-behinderte Kinder gemeinsam lernen können.

In Kirchseeon gehören die Behinderten weiter zu einem Förderzentrum, einen Tag in der Woche verbringen sie an der Korbinianschule in Steinhöring. Die anderen Tage sind sie am Gymnasium und bilden dort eine eigene Lerngruppe. Derzeit gibt es in Bayern 139 dieser sogenannten Außenklassen, aber Kirchseeon ist bisher das einzige Gymnasium, das diesen - noch immer zaghaften - Schritt zu mehr Integration gewagt hat.

Das Gefühl, mithalten zu können

In Musik, Sport und Kunst, manchmal auch in anderen Fächern wird ein gemeinsamer Unterricht angeboten. Die behinderten Schüler sollen dabei das Gefühl haben, dass sie mithalten können, sagt Direktorin Söllheim. Der Matheunterricht sei dafür weniger gut geeignet.

Die Kinder der Außenklasse gehören nun zum Gymnasium dazu, sie toben auf dem Hof, sie wirken bei Festen und Projekten mit. Katharina Weißerth, eine Gymnasiastin aus der siebten Klasse, bleibt nachmittags in der Schule, um mit den Kindern der Außenklasse zu musizieren und zu turnen. "Ich mag sie, es macht auch Spaß, ihnen zu helfen", sagt die 13-Jährige. Mittlerweile seien sie schon wie Freunde.

Auf einem Rollwagen rasen sie durch die Schule, balancieren Teller auf Stäben oder drehen sich in Rhönrädern. Begleitet werden sie von Pädagoginnen der Außenklasse, aber auch von Lehrern des Gymnasiums wie Margarete Barthelmes, die im Jogginganzug die Kinder anspornt und auf die Frage, woran man erkennt, dass die Integration zu wirken beginnt, sofort sagt: "Daran, dass das Anstarren aufhört."

Schutz vor dem Leistungswahn

Einmal gab es große Aufregung: Ein Kind aus der Außenklasse hatte sich in der Pause reglos auf den Boden gelegt, alle waren in Angst, es sei etwas passiert - dabei war es nur ein Gag. Jetzt können sie gemeinsam darüber lachen. "Es sind wunderbare Schauspieler", sagt Regine Moser über ihre Schüler. Sie kennt die Förderschüler gut; bevor sie mit ihnen ans Gymnasium kam, unterrichtete sie die Kinder bereits in einer Außenklasse an der Grundschule.

Integratives Gymnasium; Haas

Gemeinsame Fahrt im Sportunterricht: Anna schiebt Amelie auf einem Rollbrett.

(Foto: Foto: Haas)

Im Gymnasium sei sie von den Lehrern mit offenen Armen empfangen worden, erzählt sie dankbar. Die Kollegen laden sie und ihre Schüler zu gemeinsamen Stunden mit den Gymnasiasten ein, "meine Schüler schauen sich viel von den anderen ab."

Vor kurzem haben die Kinder über das Thema "Gefühle" gesprochen und Masken gebastelt, die verschiedene Emotionen ausdrücken sollten. Freude und Angst - in Kirchseeon gelingt es, auszubrechen aus dem streng kognitiven Parcours, den Gymnasien sonst für die Schüler aufbauen.

Ein geschützter Raum

In der Leistungsgesellschaft ist Integration nicht einfach, sagt Mosers Kollegin Margarete Barthelmes, die selbst eine behinderte Tochter hat. "Die Kinder brauchen auch einen geschützten Raum." Ein geschützter Raum: Ihn zu bieten und zu gestalten, ohne dadurch wieder ausgrenzend zu wirken, ist eine schwierige Aufgabe. Auf der einen Seite müssen Behinderte geschützt werden vor dem Leistungswahn: Wert und Würde des Menschen sind nicht ans Abitur gebunden. Auf der anderen Seite sollen sie nicht aus falsch verstandener Schonung unterfordert und isoliert werden.

An Sonderschulen dominiere oft eine "reduktive Didaktik", sagt Hans Wocken, der Experte aus Hamburg. Anregungen fehlten, die Förderung sei zu schwach. Doch er versteht auch, wenn Eltern skeptisch fragen, ob sich denn eine allgemeine Schule wirklich auf die Bedürfnisse eines Behinderten einstellt und die dafür nötigen Ressourcen hat.

Bisher haben die meisten Behinderten aber ohnehin keine Wahl, ihnen bleibt nur die Sonderschule. Eine neue UN-Konvention dringt jedoch auf eine "inklusive Bildung" und setzt Deutschland damit unter Druck. Eltern können sich nun vor Gericht auf diese Konvention berufen, wenn sie wollen, dass ihr Kind eine allgemeine Schule besucht.

Bremen und Baden-Württemberg haben bereits reagiert; sie wollen das Elternrecht stärken, Sonderschulen könnten dort überflüssig werden. Die Lage unterscheidet sich von Land zu Land: In Schleswig-Holstein besucht fast jedes zweite Kind mit "sonderpädagogischem Förderbedarf" eine allgemeine Schule, in Hessen nur jedes zehnte. Und es gibt Pioniere wie das Werner-von-Siemens-Gymnasium in Bad Harzburg: Es integriert geistig Behinderte direkt in eine Gymnasialklasse, führt sie also nicht wie in Kirchseeon als gesonderte Gruppe.

Durch dicke Ordner durchgebissen

Bayerns Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) verspricht, auch er werde die Elternrechte stärken. Die Sonderschulen abzuschaffen, wie es unter anderem die Grünen fordern, lehnt er jedoch ab. Die Schulen würden eine "großartige Arbeit" leisten, und ein mehrfach schwerstbehindertes Kind lasse sich nicht einfach an einer allgemeinen Schule unterrichten. "Ziel ist, dass so viele Kinder die allgemeine Schule besuchen wie möglich", sagt Spaenle. Und er sei sich sicher, dass weitere Gymnasien dem Beispiel von Kirchseeon folgen werden.

Ohne die Beharrlichkeit einer Mutter und die Offenheit der Lehrer und Schulleiter hätte es das Modell in Kirchseeon nicht gegeben. Sie habe sich durch das Ministerium und durch dicke Ordner "durchbeißen" müssen, sagt Caroline Krass, die Elternsprecherin der Außenklasse. Ihr geht es darum, Strukturen aufzuweichen - das kostet in der bayerischen Schulpolitik viel Kraft.

Caroline Krass hat sich nicht abwimmeln lassen, und jetzt macht sie sich bereits Gedanken darüber, wie es später weitergehen soll, wenn ihre Tochter die Schule beendet hat. Aber so weit ist es ja noch nicht. Und jedes Mal, wenn jemand das Mädchen fragt, welche Schule es besucht, antwortet es strahlend: das Gymnasium!

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: