Süddeutsche Zeitung

Integration ins Erwerbsleben:Dritte Chance

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Schule geschmissen? Ausbildung abgebrochen? Auch dann ist noch nicht alles verloren. Wie Produktionsschulen jungen Menschen helfen, ihren Weg in den Beruf zu finden.

Von Christiane Kaiser-Neubauer

Gäste des Holiday Inn City Nord in Hamburg können sich täglich von den Fertigkeiten der Jugendlichen überzeugen. Die von Schülern der nahe gelegenen Produktionsschule Steilshoop gebauten Loungesessel, Saunaliegen und Bistro-Stehtische gehören zum modernen Interieur des neuen Hoteltowers am Kapstadtring. Das Bemerkenswerte daran: Die jungen Menschen, die im Rahmen einer Auftragsarbeit zeigten, was sie alles können, hatten große Schwierigkeiten mit der Regelschule und stammen aus sozial benachteiligten Lebensverhältnissen.

"Wir treten niemandem auf die Füße, die Wirtschaft ist bei uns mit an Bord. Die Produktionsschulen bekommen gewerbliche Aufträge und kooperieren bei Bedarf mit anderen Produktionsschulen, um diese zu bewältigen", sagt Cortina Gentner, Fachreferentin für Produktionsschulen am Hamburger Institut für Berufliche Bildung. Die Erzeugnisse aus den Gewerken Tischlerei und Metall waren in Steilshoop Unterrichtsstoff eines Jahres. Die Verbindung von Arbeit und Lernen unter einem Dach vermittelt Jugendlichen grundlegende berufliche Kompetenzen. Als Alternative zur Ausbildungsvorbereitung an berufsbildenden Schulen sind Produktionsschulen Teil des Übergangssystems von der Schule in den Beruf. 200 Schulen gehören dem Bundesverband Produktionsschulen an, zudem existieren weitere Einrichtungen dieser Art, die aber keine Verbandsmitglieder sind.

Nicht der berufsqualifizierende Abschluss steht im Fokus, es geht vielmehr um Orientierungshilfe und Integration der 14- bis 25-Jährigen in das Erwerbsleben. Wer auf den klassischen Wegen in den Arbeitsmarkt, also Schule und Studium oder duale Ausbildung, gescheitert ist, bekommt hier eine dritte Chance. "Mehr als die Hälfte der Jugendlichen kommen aus der Förderschule oder sind Schulabbrecher. Viele haben psychische Beeinträchtigungen. Das macht deutlich, mit welchen Problemen sie belastet sind", sagt Herbert Dörmann, Geschäftsführer der Werkstatt im Kreis Unna (Nordrhein-Westfalen). Für viele Teilnehmer ist es tatsächlich der vierte oder fünfte Versuch, in der Arbeitswelt Fuß zu fassen. Die entsprechenden Angebote für junge Menschen - meist gibt es weniger als 50 Plätze pro Einrichtung - laufen in der Regel für ein Jahr.

Werkstattpädagogen, Sozialarbeiter und Sonderpädagogen betreuen Kleingruppen mit fünf bis maximal zehn Jugendlichen. "Wenn Jugendliche die Erfahrung des ewigen Scheiterns gemacht haben, trauen sie sich nichts mehr zu. In der Produktionsschule erleben sie ein völlig neues Lernumfeld, erfahren häufig erstmals ihre Selbstwirksamkeit", sagt Dörmann. Mit ihren Werkstatt- und Schulungsräumen ähneln die Produktionsschulen größeren Handwerksbetrieben. Für jene, die den externen Schulabschluss anstreben, stehen Teile des Hauptschullehrplans auf dem Programm. Anhand von Aufträgen von Firmen, kommunalen und gemeinnützigen Betrieben können die Jugendlichen ihr handwerkliches Geschick und ihre Kreativität zeigen.

Und an solchen Aufträgen mangelt es nicht. Die Fertigung von Wartehäuschen für Bushaltestellen, Spielgeräten für Kitas, Kostümen für Theaterproduktionen oder Catering für Abendveranstaltungen sind nur einige Beispiele aus dem Werkstattalltag. Die Jugendlichen sind - unterstützt von den Pädagogen - für den gesamten Produktionsprozess von der Auftragsakquise über die Fertigung, Lieferung und den Aufbau bis zum Erstellen der Rechnung verantwortlich. Dafür erhalten sie ein leistungsabhängiges Entgelt, was die Motivation zudem steigert. "Das gegenständliche Lernen am Kundenauftrag ist unser Erfolgsrezept. Im Gastronomiebereich müssen Jugendliche die Mengenangaben in Rezepten umrechnen, das ist nicht die klassische Mathematikstunde. Wir lernen quasi von hinten durchs Knie", erläutert Gentner.

In allen im Bundesverband der Produktionsschulen organisierten Institutionen gelten einheitliche pädagogische Standards. Die Werkstattpädagogen wurden vom Verband speziell geschult. Fachliche Spezialisierungen der Schulen, etwa Holzverarbeitung oder Gastronomie, die mehrheitlich von Bildungsträgern in freier Trägerschaft betrieben werden, sind durchaus üblich. So auch in Bayern, wo die Beruflichen Fortbildungszentren der Bayerischen Wirtschaft (BFZ), das Rote Kreuz und die SOS-Kinderdörfer Produktionsschulen führen. In Nürnberg können sich Jugendliche auf den Einstieg in die Metall- und Holzverarbeitung, den Elektrobereich und Gastronomie vorbereiten. In den Schweinfurter Werkstätten werden Wohnaccessoires aus Metall und Holz hergestellt, und Jugendliche der Produktionsschule Haßberge in Haßfurt (Unterfranken) fertigen Textilwaren, die sie im eigenen Laden verkaufen, sagt Dörmann.

Quer durch das Bundesgebiet sind Produktionsschulen verschiedenartig organisiert und unterschiedlich stark verbreitet, denn die Einrichtungen sind Ländersache. Finanziert werden die Schulen aus mehreren Töpfen. Mit dabei sind neben den Ländern meist die Bundesagentur für Arbeit, die Jobcenter und der Europäischen Sozialfonds. Bayerische Produktionsschulen und die nach denselben Standards tätigen Jugendwerkstätten beziehen die Förderung für Arbeitsweltbezogene Jugendsozialarbeit (AJS). "Es gibt viele weiße Flecken in den Ländern. So haben Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg oder Thüringen überhaupt keine Produktionsschulen oder sie haben Angebote, die unter einem anderen Namen arbeiten", erklärt Gentner.

Die Förderung ist, je nach Region, unterschiedlich hoch: In Nordrhein-Westfalen liegt sie bei knapp 1000 Euro pro Monat und Platz, in Hamburg bei gut 800 Euro. Läuft alles nach Plan, ist das Geld nachhaltig investiert, und die Produktionsschule mündet in die Ausbildung oder einen Arbeitsplatz. Durch den Kundenkontakt und das Netzwerk in der Region erhalten die Teilnehmer häufig eine Chance in ihnen bekannten Betrieben. Von 340 Schülern der Produktionsschulen im Kreis Unna wechselten 2016/2017 zehn Prozent in die Erwerbsarbeit, 13 Prozent auf eine Azubistelle und 21 Prozent in die Weiterbildung. 17 Absolventen entschieden sich für die Rückkehr in die Regelschule. Auch viele Hamburger Produktionsschüler haben es geschafft, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.

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Quelle:
SZ vom 15.02.2019
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