Süddeutsche Zeitung

Home-Office:Arbeit ohne Grenzen

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Die neue digitale Arbeitswelt verheißt Angestellten mehr Flexibilität und Autonomie. Doch diese Freiheit führt oft zu mehr Stress, Erschöpfung und Krankheit. Arbeitgeber müssen diese Gefahr endlich ernst nehmen.

Kommentar von Kristiana Ludwig

Die neue, digitale Arbeitswelt gebiert viele Ideen, die Freiheit versprechen und doch das Gegenteil bewirken. Die Flexibilität ist so eine Idee. Einerseits gibt es für die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben wohl keine bessere Unterstützung als die Möglichkeit, statt im Büro in der eigenen Wohnung zu arbeiten. Zwischen E-Mails und Kundentelefonaten können Eltern dann beispielsweise ihrem kranken Kind eine Suppe kochen. Wer morgens nicht im Auto auf dem Weg zur Arbeit sitzen muss, kann den Tag mit Sport beginnen. Doch andererseits hebt diese Flexibilität die klaren Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit auf. Mit dem Ergebnis, dass Beschäftigte im Home-Office noch in der Nacht über ihren Aufgaben grübeln oder erschöpft sind von ihrem omnipräsenten Beruf. Eine aktuelle AOK-Studie zeigt, dass psychische Überlastung flexible Home-Office-Nutzer eher trifft als deren Kollegen im Büro. Arbeitgeber müssen diese Gefahr endlich ernst nehmen.

Diese Gesellschaft krankt an ihren grenzenlosen Arbeitsmodellen. Wobei etwa die neue Autonomie vieler Arbeitnehmer erst einmal gut klingt. Die Hierarchien in Unternehmen werden flacher, die Eigenverantwortung von Beschäftigten steigt. Wichtig ist, welches Ergebnis ein Mitarbeiter am Ende eines Projekts präsentieren kann. Die Zeit der strengen Vorgaben für jeden einzelnen Arbeitsschritt gehört in vielen Branchen der Vergangenheit an, zumal, wenn es um die Entwicklung neuer, kreativer Produkte geht. Doch auch hier gilt: Wer ein Ziel erreichen will, kann an dessen Optimierung grenzenlos arbeiten. Arbeit wird so immer wieder zum überfordernden Endspurt.

Gerade dann, wenn in Betrieben Konkurrenzdruck herrscht oder das Arbeitsverhältnis nur befristet ist, ermuntert der Leistungsdruck viele Arbeitnehmer zur "interessierten Selbstgefährdung", wie es bei Gesundheitsexperten heißt - zu einer so ausgiebigen Selbstausbeutung, dass sie für die Gesundheit bedrohlich wird. Ruhezeiten, Urlaubs- und Krankheitstage werden dann nicht genutzt, wer in der Woche ausfällt, arbeitet freiwillig am Wochenende nach.

Wenn klare Ansagen fehlen, müssen Mitarbeiter immer wieder aufs Neue untereinander aushandeln, wer eine Entscheidung trifft oder welche Folgen ihre Handlungen für das ganze Unternehmen haben. All das bedeutet Stress. Eine solche Dauerbelastung geht nur selten über längere Zeit gut. Fast jede zweite neue Frührente wird heute wegen einer psychischen Erkrankung bewilligt.

Für Arbeitgeber ist die neue Rolle ihrer Mitarbeiter zunächst sehr bequem. Wenn anstelle von Weisungsempfängern eine leistungswillige Gruppe autonomer Köpfe für sie arbeitet, ist das für die meisten Unternehmen ein Gewinn. Doch wenn sie nicht beginnen, ihre Mitarbeiter vor dieser entgrenzten Arbeit zu schützen, wird es immer mehr Beschäftigte geben, die wegen psychischer Erkrankungen über lange Zeit ausfallen.

Der neue Arbeitsschutz darf nicht nur aus Obstschalen oder Fitnessräumen bestehen. Firmen brauchen Beratungsangebote, die Vorgesetzten und Mitarbeitern vermitteln, wie sie sich selbst regulieren und Pausen gönnen können. Nötig ist eine Betriebskultur, in der es in Ordnung ist, eine Mail vom Chef am Samstag bis zum Montag zu ignorieren. Vorgesetzte müssen ihren Mitarbeitern Vertrauen schenken. Nur wenn sie an deren Engagement glauben, entsteht gesunde Flexibilität.

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Quelle:
SZ vom 18.09.2019
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