Hochschulreform:Verlorene Freiheit

Lesezeit: 4 min

Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar: Verwandte Fächer im Blick zu haben, das bereichert einen im Studium. Doch dafür haben junge Geisteswissenschaftler heute weniger Zeit. (Foto: Candy Welz/dpa)

Die Geisteswissenschaften standen vor Bologna für fächerübergreifende Bildung. Heutzutage behindert ein Korsett bürokratischer Regeln Studenten und Dozenten. Doch manche Unis haben nachgebessert.

Von Benjamin Haerdle

Vor mehr als 16 Jahren einigten sich Bildungsminister aus 29 Staaten Europas in Bologna darauf, Studienabschlüsse zu harmonisieren - mit der wesentlichen Konsequenz, dass Deutschlands Hochschulen Magister- und Diplom-Studiengänge in Bachelor und Master umwandelten. Ziel der Bologna-Reform: Studenten sollten häufiger ins Ausland gehen, besser für den Arbeitsmarkt vorbereitet und international konkurrenzfähig sein. Laut war der Aufschrei insbesondere der Geisteswissenschaftler schon damals. Bis heute hält sich bei ihnen der Verdruss.

Als einer der größten Kritikpunkte gelten die vielen Prüfungen für die Module, in denen der Lehrstoff in Einheiten gepackt wird. "Jede Modulprüfung ist eine Art Abschlussprüfung, die in die Abschlussnote eingehen kann", sagt Mandy Gratz, die an der Uni Jena Französisch und Mathematik für das Lehramt studiert. Anders als früher, als ein Schein schon mit der Note 4,0 für das Bestehen eines Kurses ausreichte, führe dies zu einem enormen Druck für die Studierenden, für jede Arbeit eine möglichst gute Note zu bekommen. Weil zudem die Zahl der Prüfungen zugenommen habe, bleibe kaum Zeit, sich in Vorlesungen und Seminare anderer Fächer zu setzen. Diese Probleme haben auch viele Professoren erkannt. "In den Geisteswissenschaften hatte es schon immer einen eigenen Wert, in einem großen Lehrangebot seinen persönlichen Weg zu finden", sagt Joachim Grage, Professor für nordgermanische Philologie und Studiendekan der Philologischen Fakultät an der Universität Freiburg. Diese Freiheit habe deutlich abgenommen. Allerdings komme ein strukturiertes Studium vielen Studierenden auch entgegen, weil sie genau wüssten, wann sie welche Kurse zu machen hätten.

Die meisten Hochschulen haben ihre Studiengänge nach der Umwandlung in Bachelor und Master mittlerweile in den Details neu justiert und Nachbesserungen vorgenommen. Die Universität Bielefeld führte beispielsweise im Jahr 2003 Bachelor-Studiengänge ein und setzte bereits die Reform der Reform um. "Eine Art Bologna 2.0", wie Kai Kauffmann meint. "Wir hatten anfangs zu viele Prüfungen und für alle Lehrveranstaltungen eine Anwesenheitspflicht", sagt der Dekan der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft. Prüfungen und Pflichtveranstaltungen seien aber reduziert, die Anwesenheitspflicht de facto vom Rektorat abgeschafft worden. Damit seien Fehler korrigiert worden, doch Baustellen blieben.

Bei einem Hochschulwechsel sind die Verfahren zur Anerkennung von Leistungen häufig kompliziert

Bologna sei ein Bürokratisierungsprogramm, klagt Kauffmann von der Universität Bielefeld. Die Hochschule betreibe einen enormen Aufwand für die Planung, die Akkreditierung und das Input-Output-Controlling der neuen Studiengänge, ohne dass dies mehr als die Sicherung von allgemeinen Mindeststandards bewirke. "Das alte System erschien mir einfacher, weil es Studierenden und Dozenten nicht so viele Vorgaben machte", argumentiert er.

Über den gestiegenen Verwaltungsaufwand klagt auch Ulf Abraham an der Universität Bamberg. "Beim Ziel, Studienleistungen aus dem Ausland oder aus anderen Hochschulen Deutschlands schneller anzuerkennen, gibt es wenig Verbesserung", sagt der Inhaber des Lehrstuhls für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur. Es gebe einen Wildwuchs an vergleichbaren Studiengängen im identischen Fach, bei dem man sehr genau prüfen müsse, was sie eigentlich vermitteln. Das zeigt allein schon der Blick auf die Masterstudiengänge mit Bezug zur Germanistik, von denen es an den bayerischen Universitäten fast 40 Angebote gibt. "Das sind individualisierte Anerkennungsverfahren, bei denen immer ein Fachvertreter die Gleichwertigkeit bescheinigen muss", sagt Abraham. Wo früher ein Professor mit Augenmaß entscheiden konnte, ob die Leistungen eines Studenten an einer anderen Universität denen der eigenen entsprechen, müssten die Entscheidungen jetzt rechtssicher sein. Das zieht das Verfahren in die Länge. Es gibt auch Fälle, in denen an sich sinnvolle Lernziele den Wechsel der Studenten an eine andere Universität deutlich erschweren. "Wer bei uns im Master Germanistik studieren will, muss Kenntnisse der mittelhochdeutschen Sprache und Literatur nachweisen", sagt Literaturdidaktiker Abraham. Doch Mediävistik ist an vielen anderen deutschen Hochschulen im Bachelor-Studiengang Germanistik kein Pflichtbestandteil. Die Folge: "Wir schrecken potenzielle Master-Studierende ab, ohne das eigentlich zu wollen", sagt Abraham. Für ihn ist das symptomatisch für die Umsetzung des Bologna-Prozesses hierzulande. "In Deutschland wurde alles bis ins kleinste Detail festgelegt und verrechtlicht", bilanziert er. Das hätte man auch lockerer handhaben können.

Manche Absolventen gehen in die Werbung oder in den kaufmännischen Bereich

Erreicht haben die Bildungsminister mit der Bologna-Reform das Ziel, die studentische Mobilität anzukurbeln. Immer mehr Studierende zieht es für einen Teil des Studiums ins Ausland. Auch für ausländische Studierende wird Deutschland immer beliebter, dies belegen Zahlen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Wolfgang Hochbruck, lange Zeit Studiendekan an der Philologischen Fakultät der Universität Freiburg, kann das zumindest für seine Fakultät bestätigen. "Bei uns gehen sehr viele Studierende für ein oder zwei Semester ins Ausland. Und wir haben Studiengänge wie den Master 'British and North American Cultural Studies', die international stark nachgefragt sind", sagt er. Allerdings sei der Gang ins Ausland nicht immer einfach. "Wir haben in unsere Lehrpläne Zeitfenster eingebaut, um unseren Studierenden Auslandsaufenthalte zu ermöglichen", erläutert Hochbruck.

Groß ist das Unbehagen auf studentischer Seite angesichts des politischen Anspruchs der Beschäftigungsbefähigung, also der Frage, ob die Hochschulabsolventen rasch einen passenden Job finden. "Lehrveranstaltung besucht, Prüfung bestanden, Leistungspunkte eingesammelt, Qualifikationsziel erreicht - alles ist zweckgebunden und der Berufsqualifizierung unterworfen", fasst Studentin Gratz ihre Kritik am derzeitigen System zusammen. Als Vorstandsmitglied des Studentendachverbands Freier Zusammenschluss von StudentInnenschaften (fzs) bringt sie damit auch die Meinung vieler Studierender in den Geisteswissenschaften auf den Punkt. Der Bamberger Hochschullehrer Abraham hat an dem Sinn des Begriffs Beschäftigungsbefähigung für Geisteswissenschaftler ebenfalls so seine Zweifel. "Das ist grundsätzlich eher heikel", sagt er. "Die Bamberger Bachelor- und Master-Absolventen können zwar im Sinn von Schlüsselqualifikationen vieles, was der Arbeitsmarkt braucht, aber sie sind durch ihr Studium für wenig Bestimmtes qualifiziert." Notwendig ist für Geisteswissenschaftler also eine flexible Haltung am Arbeitsmarkt. Das zeigt sich auch in deren Berufswahl, wie eine bundesweite Absolventenstudie des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung aus dem Jahr 2013 belegt. Da es nur ein geringes Stellenangebot in einschlägigen Berufsfeldern gebe, würden deren Absolventen häufig auf andere Berufsfelder wie zum Beispiel den kaufmännischen Bereich, Werbung oder Marketing ausweichen, heißt es in der Studie. Der Einstieg in das Berufsleben dauere bei Geisteswissenschaftlern damit etwas länger als bei anderen Disziplinen.

© SZ vom 03.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: