Hochschulen:Der nächste Bildungsnotstand

Der Umbau auf Bachelor und Master setzt auf Dequalifizierung. Es schadet dem Land, wenn immer mehr junge Menschen studieren sollen - besser wäre es, die Lehrberufe zu fördern.

Julian Nida-Rümelin

Julian Nida-Rümelin ist Ordinarius für politische Theorie und Philosophie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität.

Julian Nida-Rümelin

Julian Nida-Rümelin: "Wir müssen die Idee einer Hierarchie von Bildungsabschlüssen aufgeben."

(Foto: Foto: ap)

Die Politik begeht große und kleine Fehler. Die Entscheidung zur Bekämpfung des globalen, fundamentalistisch motivierten Terrorismus im Irak einzumarschieren, war ein großer Fehler. Es gibt kleine Fehler, wie die der Kultusministerkonferenz von 1977, die - einstimmig - beschloss, dem sich abzeichnenden Studentenberg nicht durch einen Ausbau der Hochschulen, sondern mit einer Untertunnelungs-Strategie zu begegnen, das heißt, für einige Jahre eine Überlast in Kauf zu nehmen. Die resultierende Überlastung der Universitäten stellte sich aber nicht als temporär heraus, sondern nahm mit den Jahren, ja Jahrzehnten, weiter zu. Überfüllte Hörsäle, mangelnde Betreuung und dramatisch ansteigende Studienabbrecher-Quoten waren die Folge. Ein kleiner Fehler mit desaströsen Konsequenzen.

Es ist noch nicht lange her, als Konservative angesichts dieses Desasters für eine strengere Auslese, für deutlich reduzierte Studierenden-Quoten argumentierten, während Progressive den Zugang zum akademischen Studium weiter erleichtern wollten. Seit einigen Jahren ist, auch infolge des Bologna-Prozesses mit seinen neuen Bachelor- und Master-Studiengängen und der angestrebten internationalen Anpassung, die bildungspolitische Lage völlig verändert. Konservative wie Progressive plädieren nun, die OECD-Statistiken im Blick, für eine Anhebung der Akademiker-Quote auf 50 Prozent. Wenn damit zugleich der Irrtum von 1977 korrigiert werden sollte, so bedeutete dies eine Verdreifachung des Personals an den deutschen Hochschulen. Davon ist allerdings nicht die Rede.

Das Umbauprogramm setzt auf mehr Betreuung, schnellere Studienabschlüsse, deren internationale Vergleichbarkeit und höhere Mobilität. Vor allem aber setzt es auf etwas, das nirgendwo ausgesprochen wird: auf Dequalifizierung.

Unheilige Allianz

Bedingung selbstverantworteter Forschung und Lehre war bislang die Habilitation. An dieser Hürde scheiterten allzu viele wissenschaftliche Karrieren, und sie hielt Nachwuchsforscher zu lange in Abhängigkeit. Um eine Magisterarbeit betreuen zu können, musste man bis dato habilitiert sein. Der bayerische Landesgesetzgeber hat nun bestimmt, dass als Qualifikation der betreffende Studienabschluss ausreicht. Kurz: Wer vor wenigen Monaten seinen Master gemacht hat, kann eine Masterprüfung abnehmen.

Die Dequalifizierung betrifft aber nicht nur den akademischen Bereich, sondern vor allem auch den nicht-akademischen. In einer unheiligen Allianz aus Marktwirtschafts-Ideologie und Bildungsfeindschaft wurde die Bedeutung der Meister- und Gesellenprüfungen in den vergangenen Jahren kontinuierlich vermindert. Das duale System aus betrieblicher Ausbildung und staatlich verantworteter beruflicher Bildung ist in einer Krise. Das hervorstechende Merkmal der deutschen Wirtschaft, nämlich über ein hohes Qualifikations-Niveau der Arbeitnehmerschaft zu verfügen, das sich auch statistisch im Vergleich etwa zu Großbritannien oder den USA immer noch zweifelsfrei belegen lässt und das international agierende Firmen rühmen - dieses Merkmal ist in Gefahr.

Das Szenario sieht etwa folgendermaßen aus: Die Akademikerquote, also der Anteil der Absolventen eines Hochschulstudiums an einem Jahrgang, wird auf 50 Prozent angehoben. Angesichts der knappen Personalressourcen studiert die ganz überwältigende Mehrzahl bis zum Bachelor, schon deswegen, weil für die Master-Studiengänge keine ausreichenden Kapazitäten mehr bereit stehen. Die Lehre in den Bachelor-Studiengängen entkoppelt sich von der wissenschaftlichen Forschung, verschult und erstarrt. Nach einigen Jahren hinkt sie dem Forschungsstand weit hinterher.

Der nächste Bildungsnotstand

Nur noch ein Bruchteil der späteren Akademiker erfährt die direkte Konfrontation mit der Forschung, die eigene Beteiligung an Forschungsprojekten und Methodendiskussionen eines Lehrstuhls, wovon Wilhelm von Humboldt zu Recht Persönlichkeitsbildung, Stärkung der Urteilskraft, geistige Unabhängigkeit und Entscheidungsstärke erwartete. Der Weg in den Beruf führt für die allermeisten über Hochschulreife und Bachelor-Studium. Wer auf dem Weg dorthin scheitert, geht nicht mehr den mühevollen Weg der Facharbeiter-Ausbildung, sondern sucht die einfachere Lösung über Anlernen im Job mit unsicheren Aussichten und niedrigem Einkommen - so ist jedenfalls die amerikanische Erfahrung, wo die Akademikerquote über 50 Prozent liegt.

Gibt es zu diesem Schreckensszenario eine Alternative? Und wenn, ist diese noch realisierbar? Ja. Wir sollten diejenigen Wege in den Beruf, die neben einem akademischen Studium in Deutschland vorhanden sind, nicht ab-, sondern aufwerten. Unser Arbeitsmarkt tut dies seit einigen Jahren (anders als in vielen anderen Ländern der Welt), indem sich die Lebenseinkommen von Facharbeitern und Akademikern zunehmend angleichen. Während eine Reihe von Defiziten zu beklagen sind (zum Beispiel haben wir zu wenig Absolventen ingenieurwissenschaftlicher Studiengänge), gibt es offensichtlich auch einen großen Bereich, in dem die Studierendenzahlen heute zu hoch sind.

Überkommene Bildungsideologie

Hier hat Deutschland eine attraktive Alternative, die man ausbauen kann. Die oft allzu engen Ausbildungsgänge in den Lehrberufen müssen mit Bildungsinhalten, auch mit wissenschaftlichen Inhalten, angereichert werden. Kurz: Bildung wird auch in diesen sogenannten Ausbildungsberufen zur besten Qualifikation. Wir müssen die Idee einer Hierarchie von Bildungsabschlüssen aufgeben. Es gibt kein Oben und Unten, sondern es gibt ein breites Spektrum von Wegen in den Beruf, die unterschiedliche Begabungen und Interessen spiegeln. Wir sollten den Begriff der "sozialen Selektivität" einmotten. Er ist zur Kritik der allzu frühen Weichenstellung der Bildungswege in Deutschland sinnvoll gewesen, aber er ist einer überkommenen Bildungsideologie verhaftet. Die dünkelhafte Herabsetzung handwerklicher und technischer Begabungen und Interessen sollte endlich der Vergangenheit angehören.

Wenn man den Statistiken glauben darf, haben wir in Deutschland einen besonderen Mangel an Ingenieuren und an Schlossern (ja: Schlossern). Wir haben dagegen keinen Mangel an Architekten, Juristen, Kommunikationswissenschaftlern und Germanisten. Die pauschale Anhebung der Akademiker-Quote macht in Deutschland weder bildungspolitisch noch volkswirtschaftlich Sinn. In Kombination mit der dramatischen Unterfinanzierung des Bildungssektors führt dieser Weg in einen zweiten Bildungsnotstand.

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