Ziemlich genau zweieinhalb Jahre lagen zwischen dem Tag, an dem Jörg Beißel erfuhr, dass er HIV-positiv ist, und dem Moment, an dem er seinem Chef davon erzählte. Als er im März 2015 die Diagnose bekam, musste Beißel die Nachricht erst einmal selbst verkraften. "Ich hatte anfangs nicht das Gefühl, dass ich so etwas Intimes mit meinen Kollegen und meinem Vorgesetzten teilen will", sagt er.
Doch er merkte, dass er sich im Job veränderte. Der 37-Jährige ist gelernter Gärtner und plant deutschlandweit die Außenanlagen des Softwarekonzerns SAP. Er sei eigentlich ein offener Mensch, der sich mit Kollegen auch gern über private Dinge unterhalte. "Nicht über meine Infektion zu sprechen, fühlte sich für mich immer mehr an, als würde ich etwas verschweigen." Beißel beschloss, sich einem Kollegen anzuvertrauen - und dann seinem Chef. "Als ich es ihm erzählt habe, ist er aufgesprungen, hat mich gedrückt und sich für mein Vertrauen bedankt", sagt er. Nach und nach erzählte er auch anderen Kollegen von seiner HIV-Infektion. "Seitdem bin ich im Beruf wieder viel mehr ich selbst."
Jörg Beißel erzählt seine Geschichte in diesen Tagen öfter. Nicht nur, weil am 1. Dezember der Welt-Aids-Tag an die unheilbare Krankheit erinnert. Sondern auch, weil im Sommer mehr als 50 Unternehmen eine Erklärung unterschrieben haben, sich gegen die Diskriminierung von HIV-positiven Menschen im Arbeitsleben einzusetzen. SAP gehört neben Daimler und Bosch zu den Firmen, die bei der Kampagne #positivarbeiten mitmachen - und Beißel ist ihr Gesicht. Er wolle aufklären, sagt er.
"Viele Menschen wissen viel zu wenig über HIV." Es fange schon damit an, dass vielen nicht klar sei, dass Aids nicht ausbricht, wenn die zugrunde liegende Virusinfektion früh erkannt und behandelt wird. So auch bei Beißel, der einmal am Tag eine Tablette schluckt und sonst ohne Einschränkungen lebt und arbeitet, wie er sagt. Die Virenanzahl in seinem Blut ist dank der Medikamente längst unter der Nachweisgrenze. Er kann niemanden anstecken.
In seinem Unternehmen hat er schon etwas bewirkt
Trotzdem hat Beißel seit seinem Coming-out immer wieder erlebt, dass er im Job anders behandelt wird. Es habe ihn nie jemand offen angefeindet, sagt er. Doch einige Kollegen hätten nicht gewusst, ob sie ihn auf die Infektion ansprechen dürfen. "Ihnen sage ich immer: Komm, wir gehen mal einen Kaffee trinken. Dabei stellen sie meist die Fragen, die ihnen auf dem Herzen liegen." Denn wenn man miteinander redet, so glaubt Beißel, würden Ängste abgebaut und es entstehe gar kein Nährboden für Diskriminierung.
Die Unternehmen, die sich der Initiative #positivarbeiten angeschlossen haben, wollen Mitarbeitern mit HIV das Gefühl geben, dass sie sich offen zeigen können, "wenn sie es wünschen". Man sollte meinen, dass dies selbstverständlich ist - genauso wie die Selbstverpflichtung, niemanden zu einem Test zu drängen oder Führungskräfte zu schulen, damit sie genauso gut reagieren wie der Chef von Jörg Beißel. Doch gerade in einigen Firmen im Gesundheitswesen gehört ein HIV-Test der Deutschen Aidshilfe zufolge immer noch zur Einstellungsuntersuchung. Und das, "obwohl er rechtlich unzulässig und das Ergebnis für die Arbeit unerheblich ist".
In seinem Unternehmen jedenfalls hat Jörg Beißel schon etwas bewirkt. Seit auf der Webseite von SAP ein Video zu sehen ist, in dem er seine Geschichte erzählt, hätten sich Kollegen aus aller Welt bei ihm gemeldet. Er beantwortet Fragen und berichtet, wie es ist, die Virusinfektion öffentlich zu machen. Beißel sagt, er könne und wolle niemandem pauschal raten, es ihm gleich zu tun. "Das hängt ganz vom Umfeld und letztlich von einem selbst ab", sagt er. "Doch für mich hat es sich gelohnt, den Mut zu haben."