Heidelberg:Die Jagd auf das Antlitz

Heidelberg: "Das Menschliche Antlitz im Spiegel soziologisch-nervöser Prozesse, 1976/77" heißt diese Arbeit von Jürgen Klauke in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg.

"Das Menschliche Antlitz im Spiegel soziologisch-nervöser Prozesse, 1976/77" heißt diese Arbeit von Jürgen Klauke in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg.

(Foto: Jürgen Klauke/VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Das fotografische Konterfei fixiert, vermisst und erforscht das Gesicht - auch das von Patienten und Delinquenten. Die Sammlung Prinzhorn untersucht in der Ausstellung "Wer bist du? Das bist du!", was Porträts über die Porträtierten verraten.

Von Astrid Mania

Das Foto zeige den Absturz einer der größten Sportikonen überhaupt - so der Kommentar der Zeitschrift USA Today. Und das sei "traurig, grässlich, inakzeptabel und schockierend". Der bildhafte Anlass für diese adjektivisch aufgerüstete Erregung war verhältnismäßig klein: das Polizeifoto des Golfspielers Tiger Woods, das nach dessen Verhaftung in Florida entstand und seit Wochen im Netz kursiert. Woods soll berauscht Auto gefahren sein. Nun dürfte auf einer erkennungsdienstlichen Aufnahme, die unter Zwang und Stress und möglichen anderen Einflüssen entsteht, niemand glamourös wirken. Warum also wurde Tiger Woods aufgrund dieses Bildes nahezu einhellig zum gescheiterten Fall erklärt?

Es dürften nicht nur der Anlass und das wenig schmeichelhafte Porträt, sondern auch dessen Format sein, das Woods sogar hierzulande zum medialen Verhängnis wurde: Das "Verbrecherfoto" ist Bild gewordene Vorverurteilung, der Anschluss an eine Genealogie krimineller Konterfeis. Ob unschuldig oder nicht - ein Gesicht, das erkennungsdienstlich behandelt wird und buchstäblich in das fotografisch-polizeiliche Raster gerät, wird von der Historie und Zeichenmacht dieses Genres überschrieben. Dass solche Bilder in den USA überhaupt an die Öffentlichkeit geraten, liegt am dortigen "Freedom of Information Act". Ganze Webseiten haben sich auf die Publikation von Polizeifotos spezialisiert; auch gibt es dafür, weltweit, Sammler. Das eigene Gesicht ist für immer verloren.

Es ist uns Menschen vermutlich schwer auszutreiben, von äußerlichen Merkmalen besonders im Gesicht auf das Innere unseres Gegenübers zu schließen. Die Kulturgeschichte ist voller arche- und stereotypischer Beschreibungen vom personifizierten schönen Guten und seinem hässlichen Gegenspieler. In der Malerei kontrastiert in den Darstellungen der Passion Christi dessen edles Antlitz mit den grotesk verzerrten Fratzen seiner Peiniger. Auch aus den Stuben der Geldwechsler blicken uns verunstaltete Physiognomien an, wie überhaupt aus allen Orten, an denen dem Kartenspiel, dem Trunk oder anderem vermeintlichem Laster gefrönt wird. Und so steckt wohl auch hinter der zeitgenössischen voyeuristischen Begeisterung für das Polizeifoto die Vorstellung, dass einem von dort das personifizierte Böse, zumindest ein delinquenter Zug um Mund oder Augen entgegenschaue.

Selbst- und Fremdbestimmtheit fallen in der Fotografie in besonderem Maße ineinander

Mitte des 19. Jahrhunderts haben sich dann sowohl die Fotografie als neues, vermeintlich objektives Medium wie auch der Glaube an die Wissenschaft etabliert. Mit beider Hilfe vermisst und katalogisiert die Phrenologie Gehirn und Schädel, denn an ihrer Form sollen sich nach deren Lehrmeinung der Charakter und das geistige Vermögen eines Menschen zeigen. Darauf aufbauend veröffentlicht der italienische Arzt Cesare Lombroso im Jahr 1876 die Schrift "L'uomo delinquente", auf Deutsch "Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung". Hierin behauptet er den Zusammenhang zwischen körperlichen oder mentalen "Defekten" und krimineller Veranlagung. Der Kriminelle werde als solcher geboren; die Klassifizierung Lombrosos ordnet ihn zwischen dem "Geisteskranken" und dem "Primitiven" ein, das Trio der Niederen, Unerwünschten und Begafften.

In der Anthropologie, Forensik, Kriminologie und später der Rassenlehre mit all ihren Perversionen wird das Gesicht fotografisch fixiert und erforscht, um anhand der Physiognomie des Menschen auf seine intellektuelle und moralische Verfasstheit sowie seinen zivilisatorischen Entwicklungsstand zu schließen. Die Jagd auf das Antlitz ist eröffnet. Damit sind auch die Aufnahmen von Psychiatriepatienten, die bei ihrer Einlieferung zwangsweise fotografiert wurden, immer mehr als bloße Hilfsmittel zur Identifizierung. Sie stigmatisieren, sind unterstellte Andersartigkeit und Minderwertigkeit.

Das Archiv der in Heidelberg ansässigen Sammlung Prinzhorn verfügt über zahlreiche solcher Porträts. Sie sind Ausgangspunkt der dortigen Ausstellung "Wer bist du? Das bist du!", ebenso wie die Texte und Zeichnungen einstiger Patientinnen und Patienten, die mit diesen Medien versucht haben, die Deutungshoheit über ihren Körper und ihren Geist zurückzugewinnen.

Wie weit solche Zuschreibungen bis heute gültig sind, belegen auch die Werke der in der Ausstellung versammelten zeitgenössischen Künstler. So zeigt Zanele Muholi in ihren inszenierten Selbstporträts das Bild der farbigen Frau als Konstrukt aus geschlechtlichen und ethnischen Stereotypen, als Projektionen des weißen und zumeist männlichen Blicks. Jürgen Klauke betitelt identische, nur zwischen zwei Gesichtsausdrücken wechselnde Passbilder seiner selbst mit Berufsbezeichnungen und sozialen Attributen, die ebenso willkürlich wie absurd erscheinen. Und bereits in den 1930er-Jahren wandte sich Helmar Lerski gegen sozialistisch wie rassenideologisch motivierte Typisierungen und schuf seine 140-teilige Serie "Metamorphose" oder "Verwandlungen durch Licht": Aus Nahaufnahmen eines Mannes machte er mithilfe von Licht und Spiegelung "100 verschiedene Gesichter, darunter das eines Helden, eines Propheten, eines Bauern, eines sterbenden Soldaten, einer alten Frau, eines Mönchs", so Siegfried Kracauer.

Selbst- und Fremdbestimmtheit, Macht und Ohnmacht, fallen im fotografischen Porträt in besonderem Maße ineinander. Denn die Fotografie hat nicht nur von der Malerei die Auf- und Abwertungsformeln der Dargestellten übernommen. Sie trägt auch die Geschichte eines Missbrauchs durch Formen von Wissenschaft und Institutionsbürokratie in sich, die Identitäten zuschreibt, Beweise für Minderwertigkeit gefunden haben will, die Abgebildeten herabwürdigt und auf Untersuchungsgegenstände reduziert. Doch die Fotografie ist, und das zeigt die Ausstellung, eben auch das Medium, um gegen diese Vorstellungen und den historischen Ballast anzuarbeiten.

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