Hauptschule:"Bei uns landet das, was die Gesellschaft entsorgt"

Hungernde Kinder, prügelnde Eltern, tägliche Machtkämpfe: Die Realität an deutschen Hauptschulen ist bitter. Ein Lehrer berichtet aus seinem Alltag.

J. Bönisch

Private Wachdienste auf dem Schulhof, Sammelbecken für "Problemkinder", Brandbriefe verzweifelter Lehrer, dazu sinkende Anmeldezahlen und fehlender Rückhalt aus der Politik: Seit Monaten ist in Deutschland vom Ende der Hauptschulen die Rede. Doch für die Schüler und Lehrer der insgesamt 5195 Hauptschulen in Deutschland ist das Lernen und Leben dort - manchmal bittere - Realität. Ein Hauptschullehrer, der anonym bleiben möchte und hier deshalb einen anderen Namen erhält, erzählt aus seinem Alltag und berichtet vom täglichen Kampf um kleine Erfolge.

Hauptschule: Von der Gesellschaft aussortiert: Hauptschüler in Deutschland.

Von der Gesellschaft aussortiert: Hauptschüler in Deutschland.

(Foto: Foto: dpa)

sueddeutsche.de: Glaubt man der aktuellen Berichterstattung über die Hauptschule, müssten Sie an einem Ort des Schreckens arbeiten. Mögen Sie Ihren Beruf?

Hartmut Groß*: Ja, meistens mag ich ihn. Ich bin seit mehr als 30 Jahren Lehrer und habe mir in dieser Zeit nur selten gewünscht, ich hätte einen anderen Job. Doch die Unterrichtsbedingungen werden immer schwieriger. Die Politik übt großen Druck auf uns aus, die Schüler werden von vorneherein als Verlierer abgestempelt und die Zusammenarbeit mit den Eltern ist oft katastrophal. In unseren Klassen sitzen viele Gestrandete, Demotivierte und auch Verhaltensgestörte. Doch nachdem ich ihre Eltern kennengelernt habe, hatte ich oft mehr Verständnis für die Kinder.

sueddeutsche.de: Was meinen Sie damit?

Groß*: Ich habe mir schon oft gedacht: "Dafür, wie XY aufwächst, schlägt er sich sogar sehr gut." Wir haben zum Beispiel viele Schüler, die am Ende des Monats einfach nichts mehr zu essen bekommen, weil kein Geld mehr da ist. Dann haben wir Kinder mit psychisch kranken Eltern, oder solche, die geschlagen und missbraucht werden. Das sind traurige Extremfälle, die aber an der Hauptschule häufiger vorkommen als an anderen Schulformen. Dazu kommen dann die "normalen" Erziehungsfehler, die Eltern begehen und wir ausbaden müssen.

sueddeutsche.de: Was sind das für Fehler?

Groß*: Wir bemerken eine grundsätzliche Vernachlässigung. Auf Klassenfahrten etwa spüren wir deutlich, dass es die Kinder überhaupt nicht gewöhnt sind, den ganzen Tag einen erwachsener Ansprechpartner zu haben. Sie finden es toll, dass plötzlich jemand für sie da ist und werden richtig anhänglich. Wir sind dann Familienersatz, der am liebsten noch beim Einschlafen dabei sein soll. Außerdem stellen wir fest, dass die Schüler von zu Hause keinerlei Anregungen bekommen. Da wird nicht gelesen oder mal gemeinsam etwas unternommen. Ich habe Kinder in meiner Klasse gehabt, die dachten, die Milch käme von Aldi. Die hatten noch nie eine Kuh gesehen. Wenn man mit solchen Schülern mal den Mainzer Dom besucht, staunen die Bauklötze. Solche im Grunde ganz einfachen Dinge durften sie nie kennen lernen.

sueddeutsche.de: Bekommen Sie von den Eltern dieser Kinder Unterstützung?

*Name von der Redaktion geändert.

"Bei uns landet das, was die Gesellschaft entsorgt"

Groß*: Nein, so etwas wie aktive Elternarbeit gibt es bei uns nicht. Ich hatte schon Klassenpflegschaftssitzungen, bei denen ich der einzige Anwesende war. Wenn drei Eltern kommen, ist das eine gute Quote. Wenn ich Probleme mit einem Schüler habe und deshalb die Eltern anrufe, wollen einige gar nicht mit mir sprechen. Andere wiederum sind selbst völlig hilflos, was ihr Kind angeht. "Wenn ich nicht mehr weiter weiß, kriegt der Junge von mir 'nen Schlag in den Nacken. Das können Sie ruhig auch machen." Diesen Satz habe ich schon mehr als einmal gehört. Dann gibt es noch Eltern, die uns drohen. Sie beschweren sich beim Schulamt, wollen uns anzeigen, weil wir angeblich handgreiflich wurden oder die Schüler beschimpft haben.

sueddeutsche.de: Wie sieht Ihr Unterrichtsalltag aus?

Groß*: Grundsätzlich testen die Schüler immer aus, wie weit sie gehen können. Deshalb versuche ich gleich in der ersten Unterrichtsstunde klarzustellen, dass ich der Boss bin. Auch später überlege ich mir genau, auf welche Diskussionen ich mich einlasse und auf welche nicht.

sueddeutsche.de: Haben Sie ein Beispiel?

Groß*: Eine simple Frage ist etwa: Bitte ich einen Schüler, seinen Müll vom Boden aufzuheben? Wenn ich das tue, muss er der Aufforderung auch wirklich nachkommen, sonst verlieren die Schüler den Respekt vor mir und tanzen mir auf der Nase herum. Das klingt banal, aber so eine Situation kann sonst aus dem Ruder laufen. Solche täglichen kleinen Kämpfe sind sehr nervenaufreibend. Eigentlich habe ich immer das Gefühl, keine Schwäche zeigen zu dürfen, weil es ein paar Kinder gibt, die das gnadenlos ausnutzen.

sueddeutsche.de: Sind Sie denn schon einmal ausfällig geworden? Es muss doch schwer sein, jeden Tag in solch einem Klima zu arbeiten und dabei immer ruhig zu bleiben.

Groß*: Natürlich fällt mir das manchmal schwer. Aber dann stecke ich die Hände in die Tasche, balle dort die Fäuste, drehe mich um und gehe weg. Ausraster darf man sich als Lehrer nicht erlauben. Wir haben aber Kollegen, die damit nicht so gut umgehen können. In meinem Kollegium sind momentan mehrere Lehrer dauerhaft krankgeschrieben, weil sie die Arbeit nicht mehr ausgehalten haben. Andere kommen weinend ins Lehrerzimmer und verkünden, dass sie eine bestimmte Klasse nie wieder betreten.

sueddeutsche.de: Welche Rolle spielen Gewalt und Drogen an Ihrer Schule?

*Name von der Redaktion geändert.

"Bei uns landet das, was die Gesellschaft entsorgt"

Groß*: An unserer Schule haben wir das Problem im Griff. Rangeleien gab es schon immer und an allen Schulformen. Nach 35 Jahren im Schuldienst beobachte ich aber, dass es heute viel brutaler zugeht als früher. Wenn es knallt, dann richtig und so, dass auch mal Blut fließt. Was Drogen angeht, sind wir vor allem über Alkohol besorgt - nicht im Unterricht, aber in der Freizeit. Frage ich meine Schüler freitags, was sie am Wochenende machen, heißt es: "Saufen." Was anderes unternehmen viele gar nicht. Am Montag kommen sie dann verkatert in den Unterricht - wenn sie überhaupt kommen. Wenn die Schüler von diesen Sauftouren berichten, geht es auch viel um Sexualität. Das finde ich oft erschütternd: wie abwertend sie sich darüber auslassen und welche Dinge Zwölf-, 13-Jährige schon ausprobieren.

sueddeutsche.de: Was wird später aus diesen Kindern?

Groß*: Das kommt ganz darauf an. Ich habe schon Klassentreffen besucht, da war ich richtig stolz, wie sich einige gemacht haben. Das sind Momente, in denen ich gern Lehrer bin. Es gibt aber auch Schüler, denen der Sinn für die Realität völlig abhanden gekommen ist. Sie wollen unbedingt Tierärztin oder Rechtsanwältin werden. Wenn das nicht klappt, beziehen sie lieber Hartz IV als im Einzelhandel zu arbeiten.

sueddeutsche.de: Auch der Politik ist klar, dass die Hauptschule der Problemfall des deutschen Bildungssystems ist. Fühlen Sie sich vom Kultusministerium unterstützt?

Groß*: Nein, überhaupt nicht. Wir Lehrer bekommen großen Druck. Uns wird immer mehr Verwaltungsaufwand aufgebürdet, so dass wir kaum noch Zeit für unsere eigentliche Arbeit haben. Ständig gibt es neue Erlasse ohne ein pädagogisches Konzept dahinter. Dabei müsste man sich um unsere Schüler viel besser kümmern. Aus den Grundschulen werden nur noch die zwei, drei schlechtesten Schüler zu uns überwiesen. Auch nach dem fünften Schuljahr kriegen wir nur das, was andere Schulen "entsorgen". An Gymnasium und Realschule werden schlaue, aber verhaltensgestörte Schüler mit schlechten Noten bestraft und einfach zu uns durchgereicht. Wir müssen dann zusehen, wie wir sie in die Klasse integrieren. Doch bei manchen Kindern greifen wir ins Leere, weil wir sie einfach nicht mehr erreichen können. Dann zerstören ein oder zwei Kinder die Lernatmosphäre für 25 andere. Gute Hauptschüler gehen so zwangsläufig unter.

sueddeutsche.de: Glauben Sie, die Hauptschule hat eine Zukunft?

Groß*: Ja, weil unser Klientel nicht aussterben wird. Wohin will die Gesellschaft denn sonst all die Kinder stecken, die sie nicht haben will?

*Name von der Redaktion geändert.

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