Hamburg: Volksentscheid über Schulreform:Kurz vor knapp

Hamburg hat beim Volksentscheid die Wahl zwischen vier Jahren Grund- oder sechs Jahren Primarschule. Für die Kinder, die im August eingeschult werden, steht einiges auf dem Spiel.

Ralf Wiegand

Es ist Wahlkampf, keine Frage, und überall in Hamburg ist das zu sehen. Plakate mit Kindergesichtern behaupten, dass da am Sonntag über die Zukunft von Generationen entschieden werde. An belebten Plätzen verteilen Freiwillige an Informationsständen Flyer, die Sonnenschirme sieht man von Ferne leuchten. Kommentatoren und Interviewer geben noch einmal alles: Mitten in den großen Ferien entscheidet sich an diesem Sonntag, welchem Gesetz künftig die Hamburger Schulen zu folgen haben. Wobei künftig heißt: 24. August, Einschulungstag für Erstklässler.

Volksentscheid zu Schulreform

Eine Frau mit Kind geht in Hamburg in ein Wahllokal in einer Grundschule: Rund 1,2 Millionen Wahlberechtigte sind in der Hansestadt zum Volksentscheid über die Einführung einer sechsjährigen Primarschule aufgerufen.

(Foto: dpa)

Es ist, nach einer gut zwei Jahre dauernden Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern der Schulreform, der Tag X: Setzt sich im Volksentscheid die Vorlage der Volksinitiative "Wir wollen lernen" durch - oder bestätigen die Wählerinnen und Wähler das schon seit März geltende Schulgesetz der Hamburgischen Bürgerschaft und machen damit den Weg frei für die Einführung der Primarschule?

Der Wahlzettel ist groß und blau und enthält in Kurzfassung beide Positionen, alle Wähler haben zwei Stimmen, um eine der Vorlagen anzunehmen, die andere abzulehnen - oder sonst irgendwelche Späße mit den JA/NEIN-Kombinationen anzustellen. Abzustimmen ist im Grunde nur über den Kern der schwarz-grünen Reform, nämlich über die Abschaffung der herkömmlichen vierjährigen Grundschule. Sie soll ersetzt werden durch eine sechsjährige Primarschule. Paragraf 14 des Hamburgischen Schulgesetzes erklärt die Primarschule als eigenständige Schulform für die Jahrgangsstufen 1 bis 6, Paragraf 14 a regelt die geplante stufenweise Einführung ab dem Schuljahr 2010/2011 - Start also in knapp fünf Wochen.

Es ist also noch nicht klar, ob die kommenden ABC-Schüler vier Jahre auf einer Grund- oder sechs Jahre auf einer Primarschule verbringen werden. Die Befürworter der neuen Schulform erwarten vom längeren gemeinsamen Lernen mehr Chancengleichheit für die Kinder. Das jetzige Schulsystem benachteilige schwächere Schüler, etwa weil sie schon zu früh von weiterführenden Schülern ausgeschlossen würden. Ein späterer Schulwechsel ermögliche auch Spätentwicklern noch, sich rechtzeitig zu entfalten. Gemeinsames Lernen fördere schwächere Schüler und helfe bei der Integration von Migranten, zumal das Gesetz vorsieht, dass die Schüler individuell gefördert werden sollen. Überdies gelte längeres gemeinsames Lernen eher dem herrschenden Standard in Europa.

Die Gegner der Reform dagegen treibt vor allem eine Sorge um: der Status des Gymnasiums. Das Niveau der Schüler und der Schulen würde sinken, behaupten sie, da in den Jahrgangsstufen fünf und sechs an einer Primarschule der Stoff nicht auf die gleiche fachliche Art vermittelt werden könne wie auf einem Gymnasium. Statt nach Europa blicken die Reformgegner lieber auf die bundesdeutschen Schülertests: Pisa habe bewiesen, dass das klassische dreigliedrige Schulsystem hervorragende Ergebnisse hervorbringe, siehe Bayern.

Deutlich über 400.000 Wahlberechtigte haben per Briefwahl abgestimmt, am Sonntag sind 201 Wahlbüros in der ganzen Stadt von acht bis 18 Uhr geöffnet. Danach wird feststehen, ob das Schulgesetz tatsächlich in Teilen neu geschrieben werden muss - denn viele Bestandteile der Reform sind gar nicht Gegenstand der Abstimmung. So wird es auf jeden Fall nur noch zwei weiterführende Schulen geben in Hamburg, die Stadtteilschule, die bis zum Abitur in 13 Jahren führen wird und frühere Abschlüsse bereithält, und das Gymnasium, das nur das Abitur in zwölf Jahren anbietet. Haupt-, Real- und Gesamtschulen verschwinden. Auch die Garantie auf kleinere Klassen in der Grundschule (oder Primarschule) werden gesetzlich garantiert: Maximal 23, in sozial benachteiligten Bezirken nur 19 Schüler sollen gemeinsam unterrichtet werden. Entsprechend mehr Lehrer sind nötig. Auch das individualisierte Lernen wird, wenn nicht an der Primarschule, dann an Grundschulen kommen.

Doch der Kern der Reform, für die die Hamburger Politik seit zwei Jahren gegen Teile ihrer eigenen Wähler kämpft, ist die Idee vom längeren gemeinsamen Lernen. Ohne sie wäre die Reform in der öffentlichen Meinung nur noch ein Reförmchen.

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