Süddeutsche Zeitung

Gewalt an der Schule:Wenn der Lehrer ausrastet

Ein Tritt für vergessene Hausaufgaben: Es ist ein Tabu, aber es passiert immer wieder - Pädagogen beschimpfen und schlagen ihre Schüler.

Isa Hoffinger

Eine Sekunde, höchstens zwei. Länger, meint Catrin Lange, habe sie nicht gebraucht, um zu sehen, dass ihrem Sohn etwas Schlimmes passiert sein musste. Der Junge, der zu der Zeit in die sechste Klasse eines nordrhein-westfälischen Gymnasiums ging, sei völlig verstört gewesen, als er nach Hause kam.

"Im ersten Moment dachte ich, er hätte Streit mit einem Mitschüler gehabt", sagt die Mutter. Catrin Lange war fassungslos, nachdem ihr Sohn erzählt hatte, was geschehen war. "Er hat mir gesagt, dass sein Lehrer einen Mitschüler an die Tafel geholt und diesem Kind einen Tritt ins Gesäß verpasst habe." Der Schüler hatte seine Hausaufgaben vergessen.

Anfangs habe sie die Geschichte kaum glauben können, sagt Catrin Lange. Doch nach Gesprächen mit anderen Eltern und Kindern war sie sich sicher, dass der Lehrer tatsächlich zugetreten hatte. Mehrere Schüler bezeugten den Vorfall. Und es soll kein Ausrutscher gewesen sein. Für falsche Antworten sollen die Kinder geboxt oder mit einem Kreidekreuz markiert worden sein. Der Lehrer behauptete, es sei nur Spaß gewesen.

Denn über Gewalt an Schulen geredet wird, denkt man an Pädagogen, die von aufsässigen Pubertierenden schikaniert werden oder von Jugendlichen, die ihre Mitschüler mobben. Über Lehrer, die Gewalt ausüben, spricht man kaum. Seitdem es die Prügelstrafe nicht mehr gibt, gelten die Lehrer manchen ohnehin als zu lasch. Viele Pädagogen wünschen sich insgeheim, ihre Schüler auch einmal härter anpacken zu dürfen.

Schweigen aus Angst

In Großbritannien ergab eine Umfrage des "Times Educational Supplement", dass sich jeder fünfte Lehrer den Rohrstock zurückwünscht. Mehr als 6000 Pädagogen wurden befragt; viele sagten, das Benehmen der Kinder werde immer schlechter. Es würden abschreckende Strafen fehlen.

Trotz des Verbots der Prügelstrafe sind Übergriffe von Lehrern gar nicht selten, befürchtet Catrin Lange. Das Thema sei jedoch ein Tabu, um das sich kaum jemand kümmere. Nach den Erfahrungen ihres Sohnes wurde die Juristin selbst aktiv; sie gründete den Verein "Kinder in Schulnot", der Eltern bei Problemen mit Lehrern berät. Jeden Monat werden dem Verein zehn bis 15 neue Fälle von körperlichen Misshandlungen gemeldet.

Vermutlich schweigen viele andere betroffene Kinder und Eltern, weil sie Angst haben, alles nur noch schlimmer zu machen. Die Saarländerin Petra Litzenburger hat das so erlebt. Ihr sechs Jahre alter Sohn soll während der Hausaufgabenbetreuung von einer Lehrerin auf den Hinterkopf geschlagen worden sein. Da die Mutter mit einer Beschwerde bei der Schulleitung keinen Erfolg hatte, rief sie die "Elterninitiative gegen Mobbing und Gewalt an Schulen" ins Leben. Daraufhin sei ihr Sohn in der Schule aber erst recht gemobbt worden.

Petra Litzenburger ist wütend darüber, dass sich niemand bei ihrem Sohn entschuldigt hat. Die Behörden würden zu wenig unternehmen. "Wenn es um Fälle wie unseren geht, sprechen Schulämter gern von absoluten Ausnahmen." Aber stimmt das?

Für eine Studie der TU München wurden mehr als 400 Schüler gebeten, aufzuschreiben, ob ein Lehrer sie schlecht behandelt hat. Auch 100 Lehramtsstudenten sollten die Fragen beantworten. Zwölf Prozent der Schüler und 18 Prozent der Studenten berichteten, sie hätten mindestens einmal körperliche Gewalt erlebt. Fast jeder dritte Schüler und 46 Prozent der Studenten gaben an, bereits Opfer schwerer verbaler Aggressionen eines Lehrers gewesen zu sein.

Uwe Brustmeier aus Gummersbach erstattete in diesem Jahr eine Anzeige gegen den Sportlehrer seiner Tochter Hannah. Der Lehrer habe einer Schülerin, die sich im Schwimmunterricht am Beckenrand festhielt, auf die Hände getreten. Nun darf der Lehrer diese Klasse nicht mehr unterrichten. Uwe Brustmeier befürchtet jedoch, dass der umstrittene Lehrer an der Schule bleiben darf und seine Tochter ihn in höheren Klassen wiedertreffen wird.

In Cloppenburg wurde eine Schulleiterin im vergangenen Jahr zu einer Haftstrafe verurteilt, weil sie eine Schülerin geschubst und anschließend Druck auf das Mädchen ausgeübt hatte, ihre Anzeige zurückzunehmen. In Baden-Württemberg kündigte Anfang des Jahres eine Schule einer Erzieherin, weil diese Kinder aufgefordert hatte, einen Mitschüler zu ohrfeigen.

In der Nähe von Limburg läuft seit Monaten ein Disziplinarverfahren gegen zwei Grundschullehrer, die über Jahre hinweg Schüler geschlagen und getreten haben sollen. Die Lehrer sind vom Dienst suspendiert; das Verfahren läuft noch, ebenso wie ein strafrechtlicher Prozess.

Viele Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Lehrer werden am Ende abgewiesen. Die Beweisführung ist meist schwierig; oft werden die Lehrer einfach an eine andere Schule versetzt. Die Schulaufsicht muss auch verhindern, dass ein Pädagoge zu Unrecht bestraft und sein Ruf beschädigt wird. Petra Litzenberger ärgert sich aber darüber, dass Eltern, die sich wehren, oft als Querulanten hingestellt würden. Sie glaubt, dass viele Fälle unter den Teppich gekehrt werden.

Zu viel Nähe

Der Psychoanalytiker und Erziehungswissenschaftler Kurt Singer, der Lehrer coacht, sagt sogar: "Schulbehörden, Politiker und Lehrerverbände versuchen alles, um kritisches Nachdenken über pädagogisch unakzeptables Lehrerverhalten zu unterdrücken." Er sei einmal von einem Lehrerverband zu einem Vortrag über Gewalt in der Schule eingeladen worden. Als er vorschlug, auch die Gewalt von Lehrern zu thematisieren, sei er wieder ausgeladen worden.

Es sind nach Einschätzung von Singer nicht unbedingt die strengen Lehrer, die gewalttätig werden. Gefährlich sei es, wenn die nötige Distanz zwischen Pädagoge und Schüler fehle: "Durch zu viel Nähe werden Grenzen überschritten und das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler rückt in einen unangemessen persönlichen Bereich." Entsprechend überzogen könnte ein Lehrer reagieren, wenn ihn ein Schüler enttäuscht.

Nicht nur Schläge, auch Sprüche wie "Du lernst das nie!" oder "Du gehörst auf die Sonderschule!" können verheerende Folgen haben. Kinder und Eltern berichten von Schulangst und psychosomatischen Erkrankungen.

Aber auch Pädagogen, die ausrasten, haben offenbar ein Problem. "Man würde überforderten Lehrern helfen, wenn man mit dem Thema Mobbing und Gewalt offener umginge", sagt Kurt Singer. Lehrer, die sich bei Konflikten mit Schülern nicht anders zu helfen wüssten, als sie zu verletzen, bräuchten dringend psychologische Hilfe.

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Quelle:
SZ vom 01.12.2008/sonn
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