Geschlechterdebatte:Arme, starke Jungs

Die Geschlechterdebatte hat ein neues Sorgenkind: den Jungen. Hilflos dem Feind - sprich: Müttern und Lehrerinnen - ausgeliefert, wird er zum Scheitern aufgezogen.

Britta Voss

Unter den biologischen Wiederentdeckungen des vergangenen Jahres, etwa des Eva-Herrman-Apfelkuchenback-Gens, des "weiblichen Gehirns" von Louann Brizendine, oder des zu Menstruationszeiten dank Testosteronschubs besseren Einparkens von Frauen, war nur eine, die sich mit dem Mantel der Wissenschaft glaubhaft zu kleiden verstand: Jungen sind die Verlierer unseres Bildungssystems, weil sie eben Jungen sind, aber das heutzutage nicht mehr sein dürfen.

Die Geschlechterdebatte hat ein neues Sorgendkind: die Jungs. Hilflos dem Feind, sprich: Müttern und Lehrerinnen ausgeliefert, werden sie zum Scheitern aufgezogen.
(Foto: Foto: iStockphoto)

"Zu viel Mama und kein Papa", ist ein Grund für die männliche Verunsicherung, die etwa Ratgeberautor und Lehrer Frank Beuster ausmachte. In seinem Buch "Die Jungenkatastrophe. Das überforderte Geschlecht" sammelte Beuster die gesellschaftlichen und psychologischen Anzeichen eines Matriarchats, einer "Feminisierung der Lebenswelt von Jungen."

Die Zahlen sind tatsächlich erschreckend: Junge Männer haben doppelt so häufig wie Mädchen überhaupt keinen Schulabschluss (zwölf Prozent), ein Drittel gilt bereits im Alter von zehn Jahren als funktionale Analphabeten; ein Drittel aller Jungen haben am Ende nur die Hauptschule absolviert. "Das katholische Arbeitermädchen vom Lande, die Schulbenachteiligte der sechziger Jahre, hat einen Nachfolger: den türkischen Großstadtjungen", befand auch Ute Erdsiek-Rave (SPD), bis vor kurzem Vorsitzende der Kultusministerkonferenz.

Dabei orientiert sich die Diskussion um das neue Sorgenkind aber nur verhalten an ihrem eigentlichen Austragungsort, der Schule. Mag sein, dass (männliche) Körperlichkeit in der Schule kein freier Raum mehr zugestanden und jede Pausenhofrauferei als AufmerksamkeitsDefizit-Syndrom pathologisiert wird. Doch der brachiale Brückenschlag zwischen Geschlecht und Versagen ist Teil einer neuerlichen Backlash-Variation.

Unterwanderte Männlichkeit

"Backlash", dieses von der amerikanischen Feministin Susan Faludi vor 15 Jahren auf die Emanzipation übertragene Konzept einer Reanimation konservativer Wertvorstellungen, fand auch in Deutschland prominente Vertreter. Faludi polemisierte damals, dass der Unterschied zwischen den Geschlechtern nicht deswegen abnähme, weil es den Frauen besser, sondern weil es den Männern schlechter ginge. Am Rollenstress kranken zuallererst die Männer, da zunächst nicht sie sich verändern, sondern mit der Veränderung ihrer Töchter, Frauen und Freundinnen umgehen müssen.

Das zeigt auch die jetzige Stellvertreterdebatte um das männliche Schulversagen. Die Zwei-Geschlechter-Logik lässt ein Fräuleinwunder in Politik und Wirtschaft nur zum Preis einer ausgewachsenen Jungenkatastrophe zu.

Die Kulturwissenschaftlerin Hannelore Faulstich-Wieland hat für die Geschichte der betonten Geschlechterdifferenz einmal die Phasen der Dramatisierung und Entdramatisierung ausgemacht. In den Phasen der Dramatisierung, wie sie etwa Anfang der achtziger Jahre in der Bildungspolitik vorkam, die plötzlich die Mädchen als benachteiligte (Geschlechts-)Kategorie in den Fokus ihrer Förderung nahm, werden Rollenstereotype besonders betont. In Phasen der Entdramatisierung wird die Geschlechtszugehörigkeit neutralisiert, der Blick auf die Individuen freigemacht. Ein Beispiel für Dramatisierung ist die strikte Einteilung von Schulfächern in geschlechtsspezifische Interessengebiete, also Physik gleich männlich, Musik gleich weiblich.

Demnach befinden wir uns zur Zeit wieder einmal auf dem dramatischen Hoch, auf dem das rosa-blaue Geschlechtermemory nicht überzeichneter, nicht noch deutlicher ausgespielt werden könnte. Faulstich-Wieland hält die Momente der Dramatisierung jedoch für essentiell, damit sich überhaupt etwas ändert. Dadurch, dass die Unterschiede sichtbar werden, lässt sich erst sagen, für wie wichtig wir sie halten wollen.

Allerdings scheinen sich Pädagogen und Politiker für die Steinzeitvariante entschieden zu haben. "Jungen bietet ihre biologische Disposition für den Schulbetrieb nicht die besten Voraussetzungen", schreibt Beuster. Dazu gehört etwa eine ganz eigene Art der Schwerhörigkeit. "Jungen schalten auf Durchzug, wenn Frauen ihnen - in ihrer höheren Stimmlage - Anweisungen geben", denn durch "das Ohr erreicht man Jungen schwer. Sie hören weniger und fühlen mehr".

Arme, starke Jungs

Und wer könnte das besser verstehen als ein echter Mann? Zur Seite stehen dem "kleinen Helden in Not", wie ein Klassiker der Jungenratgeber titelt, hingegen nur die "Mädchenmuttis" und "Grundschullehrer-Tanten". "So bemühe ich mich, meinem Sohn ein Dolmetscher zu sein und ihm die Sprache einer Frau, seiner Mutter, so zu übersetzen, dass er sie verstehen kann".

Den Luxus eines Frau-Deutsch-Übersetzers haben die Knaben im Hause Beuster den meisten ihrer Altersgenossen voraus: Vaterlos (woran die Frauen mit ihrer Scheidungsfreudigkeit "bedeutenden Anteil" tragen) müssen sie die "wichtigen Lektionen für die männliche Identität: Durchhalten, Aushalten, Zusammenhalten" in feindlicher Abgrenzung zu ihrer weiblichen Umwelt erlernen.

Geschlecht, als soziale Kategorie wie die Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit verstanden, funktioniert bisher im ausschließlichen Gegensatzpaar Frau-Mann. Wenn Mädchen strebsam, leistungsstark und aufmerksam sind, kann das nicht gleichzeitig auch für die Buben gelten. Und spätestens die eigenen Geschlechtsgenossen erinnern das Männchen daran, die Trennlinie des geschlechtlich Gebotenen nicht zu überschreiten: "Angst vor Verweichlichung und Homosexualität" prägen laut Beuster immer noch die väterlichen Erziehungsmaßnahmen. Aber auch die Vorbilder aus Fibel und Fernsehen demonstrieren strotzende Virilität. Die Männlichkeitsattribute der Stärke und Unabhängigkeit bergen in ihrer ungefilterten Aufnahme und Reproduktion bedenkliches (Gewalt-)Potential.

Die reaktionäre Rhetorik der unterwanderten Männlichkeit ist erstaunlich: Genau die Mädchen, so wird suggeriert, die bis vor zwanzig Jahren als Sorgenkinder gelten mussten, in ihrer wenig fordernden, wenig durchsetzungsfähigen "Weiblichkeit", werden nun zur unliebsamen Konkurrentin. Ihre so natürliche Fühligkeit (emotionale Intelligenz), Unterordnung (Flexibilität) und Schwatzhaftigkeit (Kommunikativität) werden sprachlich aufgemotzt und als berufsbefähigende soft skills geadelt.

Doch nur einige Jahre weiter sehen die Lebenswirklichkeiten von Frauen und Männern anders aus. Frauen verdienen für gleiche Arbeit immer noch durchschnittlich bis zu 30 Prozent weniger und in den Führungspositionen bleiben sie exotische Farbtupfer. In den Chefetagen der Großbetriebe finden sich nicht einmal fünf Prozent Frauen. Ähnlich geht"s auch bei den Akademikern zu: Je höher die Gehaltsstufe, umso weniger Frauen. Unter den Hochschulabsolventen stellen Frauen noch die Hälfte, bei den C4-Professuren sind es nur noch 9,7 Prozent.

Dass das gut und irgendwie natürlich ist, kolportiert auch Jungenergründer und Frauenversteher Beuster: Frauen verlören durch die Doppelbelastung aus Familie und Beruf "einen Teil ihres Mutterseins". Wie wäre es damit, die Frau bei der Hausarbeit zu unterstützen, gar die männlichen Kinder mit heranzuziehen? Auch im Hause Beuster wurde die Gleichberechtigung geprobt. Doch der durch die Aufforderung zur Hausarbeit traumatisierte Junge kann seiner Mutter einfach nicht helfen, da "er spürt, dass er sie in ihren Domänen auch nicht übertrumpfen oder kopieren kann."

Diese Rollenstarrheit findet sich heute, kaum überraschend, auf Seiten der Männer. Der Macho ist nicht mehr gelitten, der Frauenversteher der Lächerlichkeit preisgegeben. Die jetzige Diskussion um die armen Jungs bietet die seltene Chance, die scherenschnittartigen Geschlechterstereotype zu verwerfen.

Die Bestürzung über den neuen Sorgenkindtypus, die männliche Verlierergeneration, die da heranzuwachsen droht, begnügt sich bislang mit der Anprangerung der sozialen Folgen, die wir aus dieser Entwicklung zu tragen haben werden. Sie blendet aber die tatsächlichen und nicht ideologischen Ursachen weitestgehend aus. Das zeigt allein das Bemühen, auch mit dem Urmythos eines unhintergehbaren Rohmaterials namens Geschlecht Meinung zu machen. Das männliche Sehnen richtet sich auf ein Retro-Utopia, dahin zurück, als Männer noch Geschichte machten, "ohne dass Frauen in nennenswerter Weise daran beteiligt wurden", wie Frank Beuster schwelgt.

Den Jungen kann geholfen werden, heißt es, gibt man ihnen nur die gute bipolare Ordnung der Geschlechter zurück. Und produziert damit, ganz nebenbei, das neue alte Sorgenkind: Das Mädchen.

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