Süddeutsche Zeitung

Outing:"Ich hatte Sorge, dass man über mich lacht"

Georgine Kellermann war im Fernsehen viele Jahre Georg Kellermann. Erst jetzt, mit 62, hat sich die WDR-Journalistin geoutet. Die Geschichte einer Befreiung.

Porträt von Julian Erbersdobler, Essen

Eigentlich wollte sie bis zur Rente warten. Das schwarze Kostüm hatte Kellermann schon besorgt, den Moment zigmal im Kopf durchgespielt. An ihrem letzten Arbeitstag sollten endlich alle sehen, wer sie wirklich ist: Georgine Kellermann, geboren als Georg. Eine Frau in der falschen Hülle. Freunde und Familie wussten das schon lang, aber die Kollegen ahnten nichts. Kellermann sitzt in ihrem Büro im WDR-Studio Essen, Zimmer 428, als sie erzählt, wie sie sich ihr Outing vorgestellt hat. Seit Juni 2019 leitet sie den Standort mit mehr als 100 Mitarbeitern hier, seit Herbst: als Chefin. Denn es kam anders.

An ihrem 62. Geburtstag im vergangenen September wollte Kellermann in San Francisco sein. Einmal als Frau in Heels über die Golden Gate Bridge laufen. Als sie zum Flughafen fährt, trifft sie plötzlich auf eine Kollegin am Düsseldorfer Bahnhof. Kellermann trägt Sonnenbrille und Dreivierteljeans, lackierte Fingernägel und Ballerinas.

Herr Kellermann, sind Sie das?

Ja.

Sind Sie verkleidet?

Nein, ich bin ne Frau.

Cooooool.

Warum noch warten? Nach dem Gespräch baut sich Kellermann im Zug eine neue Facebookseite, postet einen Regenbogen als Titelbild, dazu das neue Profilfoto: eine Frau vor dem Weißen Haus in Washington, Hut, Handtasche, Kette, Kostüm. Heute sagt sie über diesen Moment: "Ich habe mich gefühlt wie ein Küken, das mit dem Schnäbelchen die Schale anpiekst, und plötzlich fliegen die beiden Hälften auseinander, man streckt die Flügel aus und ist frei." Jahrzehntelang lebte Kellermann als Mann, zumindest in der Öffentlichkeit. Fuhr mit Pumps bis in die Tiefgarage ihres Arbeitgebers, ließ sie dann aber im Auto. Zog sie erst wieder an, wenn Feierabend war.

Montag, neun Uhr, Morgenkonferenz im Essener WDR-Studio: Georgine Kellermann lehnt neben einem Stehtisch. Einer der Redakteure geht die Themen des Tages durch. Ein Dreijähriger ist in Ennepetal in einen Fluss gestürzt. Der erste Corona-Fall in Essen. Ein brennendes Baumarktlager in Herten. Kellermann, goldene Kette, blaue Pumps, rote Fingernägel, hat beide Hände ineinandergefaltet. Es sieht fast so aus, als würde sie beten. Ein paar Mal schaltet sie sich in die Diskussion ein. Man sollte das Corona-Thema nicht nur auf Essen zuschneiden. Und müsste man nicht auch etwas über die griechisch-türkische Grenze machen? Vielleicht einen Syrer zu Wort kommen lassen, der im Ruhrgebiet lebt?

"Die Irritation war erst mal groß"

Georgine Kellermann hat schon während des Gymnasiums begonnen, als Journalistin zu arbeiten. Für ihre ersten Texte in der Rheinischen Post gibt es 30 Pfennig die Zeile. Das ist ihr irgendwann zu wenig. 1983 startet Kellermann beim WDR, zwei Wochen später berichtet sie über den iranischen Diplomaten Dr. Tabatabai, der am Düsseldorfer Flughafen mit Rauschgift erwischt wird. Eine irre Geschichte, bei der sich auch Außenminister Hans-Dietrich Genscher einschaltet. Sie macht Karriere vor der Kamera, arbeitet sich hoch. Von Ratingen bei Düsseldorf bis in die WDR-Studios nach Washington und Paris. Zurück in Deutschland trägt Kellermann auch in der Arbeit Frauenkleidung, die man als solche aber nicht erkannte: Jeans aus der Damenabteilung und Blusen, die wie Hemden aussehen. Was hat sie davor abgehalten, sich früher zu outen? "Ich hatte Sorge, dass man über mich lacht. Dass man das nicht mehr trennt - die journalistische Kompetenz und die soziale."

Kellermanns Büro im vierten Stock sieht auf den ersten Blick aus wie eine Kommandozentrale in einem Kriegsfilm. Hinten rechts in der Ecke hängt eine riesige US-Flagge, mit silbernem Adler an der Fahnenstange. "Das Abschiedsgeschenk der Kollegen aus Washington." Auf dem Schreibtisch: drei Festnetztelefone, zwei Handys, eine Sprechanlage. Unter der Woche muss Georgine Kellermann jetzt immer um Viertel vor sechs aufstehen, 15 Minuten früher als vor ihrem Outing. Sie schminkt sich jetzt auch für die Arbeit, Make-up, Lidschatten, Kajal, Lippenstift. Im Essener Studio duzen sie alle.

Kurz nach eins, Mittagszeit. Kellermann wirft sich ihre Jacke über, sie kennt einen guten Vietnamesen ums Eck. Meistens bestellt sie hier das Menü mit Frühlingsrollen und Suppe, auch heute. Als eine Frau am Nachbartisch aufsteht und gerade gehen möchte, sagt Kellermann: "Sie haben einen ausgesprochen schönen Mantel." Die Dame bedankt sich, lobt Kellermanns Schuhe. Später am Tag wird sie sagen: "Ich glaube, wir sind viel bunter, als das vielleicht den Anschein hat."

Wie war das für die Redakteurinnen und Redakteure, bei denen während Kellermanns US-Reise irgendwann durchsickerte, dass Georg wohl als Georgine zurückkommt? Matthias Aust ist stellvertretender Studioleiter in Essen. Mit seinem angedeuteten Irokesenschnitt könnte man sich ihn auch gut in einer Punkband vorstellen. Er sagt: "Die Irritation war erst mal groß." Aust ist damals selbst erst seit wenigen Monaten in Essen. Georgine Kellermann hatte sich ihm schon an ihrem ersten Arbeitstag anvertraut. Aber die anderen ahnen nichts. Was läuft hier?

Ihr Vater, gelernter Elektriker, hat sie nie im Rock gesehen

Noch aus dem Urlaub schickt Kellermann eine Whatsapp, die per Mail an die Redaktion geht. Wer Fragen habe, könne ihr jederzeit schreiben oder direkt anrufen. Nach dem zweiwöchigen Urlaub kommen alle Mitarbeiter im großen Konferenzraum zusammen. Kellermann hat damals feuchte Augen, als sie ihre Geschichte erzählt und alle Fragen der Kollegen beantwortet. "Das war sehr berührend", sagt Aust. "Ich habe meinem Team unendlich viel zugemutet", sagt Kellermann. Andere Kollegen schreiben ihr nach der Sitzung Mails: Danke, dass ich dabei sein durfte.

Zurück in Georgine Kellermanns Büro. An diesem Montag muss sie noch einigen Bewerbern absagen, der WDR hatte eine halbe Stelle in Essen ausgeschrieben. Sie scrollt sich durch Lebensläufe, macht sich Notizen, dann nimmt sie einen der drei Hörer in die Hand. "Ich hab jetzt keine gute Nachricht für Sie. Sorry dafür, aber Sie sind's nicht geworden." Manchmal folgen noch Tipps, wie es vielleicht beim nächsten Mal klappt. Nach einem längeren Gespräch mit einem Bewerber legt sie ihren Kopf auf den Tisch, schlägt die Hände darüber zusammen: "Ist das nicht fürchterlich?" Zwei Anrufe später sagt sie: "Oh je, die Arme."

Georgine Kellermann tobt sich schon als Kind im Kleiderschrank ihrer Mutter aus. In der Schule steht sie lieber bei den Mädchen, weil die schöner angezogen sind als die Jungs. Mit Anfang zwanzig kauft sie ihr erstes eigenes Paar Damenschuhe: flach, rot und viel zu klein. "Die musste ich hinten aufschneiden." Ihre Mutter beneidete Kellermanns lange, schlanke Beine. Ihr Vater, gelernter Elektriker, hat sie nie im Rock gesehen. "Hab ich mir schon gedacht", sagte er trocken, als sie ihn Mitte der 80er-Jahre in ein Restaurant einlud und sich outete.

Je länger man mit Kellermann spricht, desto besser kann man verstehen, warum sie Journalistin wurde. Sie kann rührende Geschichten erzählen. In ihrem Büro gibt es eine Kiste mit alten Bildern. Hongkong, Burundi, Ruanda, Kigali, Amerikanisch-Samoa, Wolgograd. Kellermann mit Kippe, Kellermann mit Mikro, Kellermann mit Kollegen. Die Motive wiederholen sich. Alleine in Mostar, Herzegowina, war sie 14 Mal, um über die Menschen im Balkankrieg zu berichten.

Vor der US-Reise hatte Kellermann 110 Follower, heute sind es mehr als 5000

Einmal, erzählt sie, war ihr Team auf einem Frachtschiff Richtung Norwegen unterwegs. Am Ende des zweiwöchigen Drehs, als sich die Wege wieder trennten, hätten die polnischen Seeleute beim Abschied geweint. "Das werde ich nie vergessen." An einem Abend gab es geräucherten Lachs, ein Geschenk der Reederei. Kellermann bestand darauf, dass auch die Matrosen mitessen dürfen, nicht nur Offiziere. Ein anderes Mal war sie mit ihrem Kamerateam in La Houve, der letzten Zeche Frankreichs. Der Obersteiger ließ sie aber immer erst nach einem Pflaumenschnaps in den Schacht. Um fünf Uhr in der Früh. Als Andenken hat Kellermann ein Stück Kohle bekommen. Es liegt neben der Kiste mit den Bildern. Tom Buhrow, heute WDR-Intendant, früherer Kollege im US-Büro, hat über Kellermann mal einen schönen Satz gesagt: "Den kannst du über dem Urwald abwerfen, und er kommt mit einer Geschichte zurück."

Der WDR hat das Outing von Georgine Kellermann selbst öffentlich gemacht. In einem Beitrag im Dezember 2019. Seitdem erlebt Kellermann eine Welle an Zuspruch. Immer wieder melden sich Fremde, denen das Video in die Timeline gespült wurde. "Schön, dass es dich gibt und du auch DU sein kannst", schrieb eine junge Frau auf Instagram, die Kellermann zufällig beim Hautarzt gesehen hat. Vielleicht sind soziale Medien gar nicht so schlecht wie ihr Ruf? Kellermann hat sich über Facebook geoutet und ist selbst zu einer Art Internetphänomen geworden. Vor dem Trip nach San Francisco hatte sie 110 Follower auf Twitter, heute sind es mehr als 5000. Hier legt sie sich unter anderem gerne mit der Bild-Zeitung an, die auch nach ihrem Outing stur vom "TV-Mann" schrieb. Nicht jede Redaktion kommt mit Kellermann so gut klar wie ihre eigene.

In einer grünen Box am Fensterbrett, die mehr als nur voll ist, sammelt Georgine Kellermann ihre Akkreditierungen. Sie wühlt sich gerade durch ihre Vergangenheit. CDU-Landesparteitag Nordrhein-Westfalen, Republica 2018, Sundance Festival, Utah. "Da sind schöne Sachen dabei." Bänder mit laminierten Karten, Ausweise, Anhänger. Auf den meisten steht: Georg Kellermann, WDR. Vor der Kamera war sie bisher noch nicht als Frau zu sehen. Aber das wird kommen, da ist sie sicher. "Als Georg war ich letztens noch auf einer Kurdendemonstration." Ob sie irgendwann auch ihren Körper anpassen möchte, ganz Frau sein? "Diese Frage stelle ich mir jeden Tag hundert Mal. Und jedes Mal beantworte ich sie anders." Auch über eine Perücke hat Kellermann schon nachgedacht, sich dann aber doch dagegen entschieden. Sie will sich nicht verkleiden.

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Quelle:
SZ vom 14.03.2020
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