Gendermedizin in Deutschland:"Frauen reagieren anders als Männer auf Krankheiten, Medikamente und Therapien"

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Warum Frauen eine andere Medizin als Männer brauchen, erklärt Vera Regitz-Zagrosek zusammen mit ihrer Kollegin Stefanie Schmid-Atringer in ihrem gemeinsamen Buch "Gendermedizin" (Scorpio Verlag).

(Foto: BIH/Thomas Rafalzyk)

Professorin Vera Regitz-Zagrosek hat an der Berliner Charité das bundesweit erste Institut aufgebaut, das sich mit geschlechterspezifischen Aspekten in der Medizin beschäftigt. Auf ihrem Weg dorthin überwand sie viel Widerstand.

Protokoll von Stefanie Nickel

"Meine erste Erinnerung an Geschlechterunterschiede bei Herzerkrankungen: Der Tod einer Frau. Es war Mitte der 90er Jahre, ich arbeitete im Herzzentrum in München. Eine junge Frau wurde in einem sehr schlechten Zustand mit einem Kreislaufschock eingeliefert. Wir wussten nicht, was mit ihr los war und generell wenig über Herzkreislauf-Erkrankungen bei Frauen. Möglicherweise hatte sie einen Herzinfarkt gehabt, sicher waren wir nicht. Ihr Krankheitsbild unterschied sich stark von dem, das Männer üblicherweise zeigen. Die Frau starb. Weil sie eine Frau war?

Aus der Serie "Meine Karriere"

In "Meine Karriere" stellt die PLAN W-Redaktion regelmäßig Frauen und ihren Berufsweg vor. Ob Gründerin, Managerin oder Abenteurerin: Viele Frauen nehmen Hürden, setzen sich neue Ziele und wagen den Neubeginn - und wir berichten davon. Sie wollen selbst eine Frau vorschlagen? Dann schreiben Sie uns gerne an planw@sueddeutsche.de

Ich begann erst Jahre später zu verstehen, was damals passiert war. Als Oberärztin am Deutschen Herzzentrum Berlin sah ich es immer wieder: Frauen reagieren anders als Männer auf Krankheiten, Medikamente und Therapien. Wir machten eine Untersuchung zu Verläufen nach Operationen an Herzkranzgefäßen und stellten fest: Junge Frauen starben deutlich häufiger als altersgleiche Männer. Das Ergebnis erschütterte mich. Hinter dem, was ich in den 90er Jahren erlebt hatte, steckte möglicherweise ein systematisches Problem.

Männer stehen im Zentrum der medizinischen Forschung - es sind hauptsächlich ihre Symptome und Beschwerden, die in die Lehrbücher eingehen. Medikamente und Therapieformen werden an männlichen Mäusen, dann an Männern getestet. Studien mit Frauen gelten wegen Schwankungen im Hormonhaushalt und der Möglichkeit einer Schwangerschaft zu Unrecht als zu komplex und teuer. So werden Frauen nach einem auf Männer ausgerichteten Standard behandelt. Das hat Folgen: Frauen leiden oft mehr unter Nebenwirkungen, wenn sie Medikamente einnehmen. Manche Präparate und Therapien wirken gar nicht. Andere müssten anders dosiert werden.

Ich hatte mein Forschungsfeld gefunden. Die Gendermedizin gab es in Deutschland Anfang der Nullerjahre praktisch noch nicht. Das trieb mich an. Ich wollte Neues tun und Lebensbedingungen verbessern. Deswegen war ich Forscherin geworden.

"Ich stieß auf viel Widerstand"

Aber ich stieß auf viel Widerstand. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie und die deutschen Forschungsförderer sind extrem konservativ. Außerdem sind die meisten Kardiologen Männer. Und so war die typische Reaktion von freundlichen älteren Herren: "Vera, du hast früher so tolle Forschung gemacht. Und jetzt machst du so komische Dinge." Die verstanden überhaupt nicht, was das sollte.

Ich ließ mich nicht abbringen, fand UnterstützerInnen und gründete eine Arbeitsgruppe, die sich mit Herzkreislauf-Erkrankungen bei Frauen beschäftigte. Wir wurden schnell bekannt und fanden heraus, dass Frauen schwieriger zu operieren waren, weil sie zum Teil kleinere und stärker gewundene Gefäße hatten. Sie brauchten also erfahrenere Operateure. Und wir entdeckten frauenspezifische Probleme auf Intensivstationen, die noch nie untersucht worden waren.

Ich bekam eine Professur an der Charité und gründete das bundesweit erste Institut für Gendermedizin. Mein Team und ich etablierten Geschlechterforschung in der Pflichtlehre - zumindest dort. Im Mai 2019 bekam ich dafür das Bundesverdienstkreuz. Das hat mich sehr gefreut. Mittlerweile hat sich einiges verändert, vor allem das Bewusstsein. Immer mehr KardiologInnen und ÄrztInnen interessieren sich für genderspezifische Aspekte der Medizin. So profitieren auch die Frauen, die von diesen ÄrztInnen behandelt werden.

Es bewegt sich etwas. Und doch liegt noch ein weiter Weg vor uns. Das sehen wir auch in der aktuellen COVID 19-Krise, in der genderspezifische Unterschiede viel zu wenig diskutiert werden. Soweit man den aktuellen Zahlen trauen kann, scheinen die Männer benachteiligt - sie erkranken häufiger, haben häufiger schwerere Verläufe und sterben häufiger. Frauen können virale Infekte oft besser abwehren, sie haben andere Verläufe und reagieren anders auf Medikamente und Impfungen. Wir müssen darauf achten, dass das bei Therapieentwicklung für COVID 19 rechtzeitig berücksichtigt wird - anders, als es bei vielen anderen Erkrankungen der Fall ist."

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