Gehälter:Warum steigen die Löhne in Deutschland nicht stärker?

Abwärts in Mainz

40 Prozent der Beschäftigten in Deutschland verdienen real, nach Abzug der Inflation, weniger als vor 20 Jahren - dabei müssten vor allem die begehrten Fachkräfte nach üblichen ökonomischen Gesetzen heute mehr Geld verlangen können.

(Foto: picture alliance / Frank Rumpenh)

Seit Jahren boomt die Wirtschaft, die Vollbeschäftigung ist nahe, Fachkräfte sind knapp. Trotzdem erleben Millionen Deutsche nur magere Lohnerhöhungen. Eine Spurensuche.

Von Alexander Hagelüken

Kangerlussuaq zum Beispiel. Markus Völkl lacht. 30 Jahre arbeitet er nun schon in der Reisebranche, aber Spaß macht's immer noch. Derzeit organisiert Völkl Reisen für Ingenieure eines Industriekonzerns an entlegene Orte der Welt. Und stößt auf Flughäfen, die selbst er noch nicht kannte - nach all den Jahren. Kangerlussuaq zum Beispiel, auf Grönland. Dort reparieren die Ingenieure Schiffsmotoren. Obwohl er nie seinen Schreibtisch verlässt, fühlt sich Völkl bei diesen Trips "hautnah dabei".

Trotzdem zweifelt der 53-jährige Münchner, ob er den richtigen Beruf gewählt hat. Das liegt am Gehalt, das sie aufs Konto überweisen. 2000 Euro netto - nach all den Jahren. 2017 gab's wieder eine Lohnerhöhung in seiner Branche, die wenig änderte. 1,5 Prozent ab April, plus Einmalbetrag: Das klingt nach mehr, als nach fast zwei Prozent Inflation übrig bleibt.

Ist das nicht etwas mau, im x-ten Jahr des Aufschwungs in Deutschland? Es gibt so wenig Arbeitslose wie seit 25 Jahren nicht mehr, müssten da Fachkräfte nicht knapp und teurer sein? Ja, findet Markus Völkl. Und mit ihm Millionen Bürger. Ungewöhnlicherweise denken aber nicht nur Beschäftigte so, die ja stets mehr verdienen möchten. Sondern auch Zentralbanker wie Mario Draghi, der ebenfalls mehr Geld für die Arbeitnehmer fordert.

Stiegen die Löhne früher stärker? Und wie käme das Land wieder dahin? Auf der Suche nach Antworten streift man durch die Nachkriegsgeschichte, vom Wirtschaftswunder bis heute. Und erfährt, wie sich das Land und die Welt veränderten.

Weniger Innovationen, weniger Produktivität

In den ersten Dekaden nach dem Krieg explodierten die Gehälter (siehe Grafik). Die Mittelschicht expandierte und gewann Wohlstand. Möglich machten dies hohes Wachstum, Nachholbedarf beim Konsum von Autos bis zu Kühlschränken - und Produktivitätssprünge von fünf Prozent pro Jahr, etwa durch die Ausbreitung der Massenfertigung. Produktivität ist zentral, um die Lohnentwicklung zu verstehen. Stellen die Arbeiter der Fabrik 10 500 Kühlschränke her statt 10 000, können diese fünf Prozent mehr Produktivität den Lohn um fünf Prozent erhöhen, ohne Mehrkosten für die Firma.

Doch nach den stürmischen Anfangsjahrzehnten verflüchtigte sich das Wunder. Die Wirtschaft wuchs langsamer, bald besaß jeder Haushalt mindestens einen Kühlschrank. Weil weniger Innovationen nachkamen, nahm die Produktivität rapide ab. Heute steigt sie in der Regel nur um ein Prozent pro Jahr, trotz Digitalisierung. Das begrenzt die Lohnsteigerungen dauerhaft. Denn Produktivität ist neben der Inflation der wichtigste Faktor in Tarifgesprächen. Sollen die Löhne stärker steigen als Produktivität und Preise, erhöht das die Kosten oder mindert die Gewinne der Eigentümer - und die wehren sich.

Gewerkschaften haben Macht eingebüßt

Was die Löhne ebenfalls unter Druck setzt, ist der weltweite Wettbewerb durch die Globalisierung. "Deutschland war die Volkswirtschaft, die am meisten von der Verlagerung nach Osteuropa betroffen war", erklärt Hagen Lesch vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. "Wegen der Globalisierung müssen die Löhne stärker zwischen und innerhalb von Branchen differenziert werden."

Parallel dazu schrumpfte die Macht der Gewerkschaften, die nach dem Krieg Raketenabschlüsse rausgeschlagen hatten. Überwies in den Achtzigerjahren noch jeder dritte Beschäftigte in den Industriestaaten einen Gewerkschaftsbeitrag, ist es heute nur noch jeder sechste. Gewerkschaften gelten manchem als unmodern. Verdi-Aktivist Markus Völkl erlebt die Folgen, wenn er Kollegen zum Kampf für bessere Bezahlung überreden will: "In den Reisebüros ist vielleicht jeder zehnte in der Gewerkschaft. An so etwas wie Streiks brauchen wir gar nicht zu denken."

Um das Jahr 2000 entflammte dann eine Debatte über die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik. Geschwächt von der teuren Wiedervereinigung, reformunwilligen Kohl-Jahren und hoher Arbeitslosigkeit, galt Deutschland plötzlich als kranker Mann Europas. Die Folge war eine jahrelange Zurückhaltung bei den Löhnen, die bis heute umstritten ist.

Hagen Lesch vom arbeitgebernahen IW-Institut rechnet vor, die moderaten Tarifabschlüsse hätten 700 000 Arbeitsplätze geschaffen und zusammen mit den Hartz-Reformen das Land wieder konkurrenzfähig gemacht - Deutschland ist heute Europas Star. Gustav Horn von der gewerkschaftsnahen Böckler-Stiftung hält dagegen. Die Lohnzurückhaltung habe die Rezession nach der Jahrtausendwende verschärft - und so die Probleme vergrößert, unnötigerweise: "Deutschland war wettbewerbsfähiger als behauptet wurde. Wir hatten nicht nur veraltete Produkte."

Müsste der Fachkräftemangel die Löhne nicht steigern?

Fest steht, dass die Löhne in den Nullerjahren anderswo doppelt so stark stiegen wie in Deutschland. Nicht nur in späteren Euro-Krisenstaaten, sondern auch in den Niederlanden, in Finnland oder Großbritannien. Seit 2010 holen die Deutschen wieder auf. Betrachtet man den ganzen Zeitraum seit der Jahrtausendwende, stiegen Löhne plus Nebenkosten in der Bundesrepublik deutlich geringer als sonst in der EU (siehe Grafik).

40 Prozent der Beschäftigten verdienen real, nach Abzug der Inflation, weniger als vor 20 Jahren. Obwohl die Arbeitslosigkeit heute so niedrig ist, dass Mitarbeiter nach üblichen ökonomischen Gesetzen knapp sein müssten - und entsprechend mehr Geld verlangen könnten.

Gustav Horn, ein Veteran der jahrzehntelangen Tarifdebatten, fordert ein halbes bis ein Prozent mehr Lohnzuwachs pro Jahr als bisher: "Das wäre ein Aufholen für die Arbeitnehmer, bei denen sich jahrelang wenig tat." Hagen Lesch dagegen warnt vor überschießender Tarifpolitik; die gefährde Jobs. In den vergangenen Jahren seien die Löhne bereits einige Male stärker gestiegen als Produktivität und Inflation zusammen, also zulasten der Gewinne. Auch Lesch räumt jedoch ein, dass die Löhne selbst in Branchen mit Knappheiten weniger steigen als früher. Warum?

Kern des Problems liegt im Dienstleistungssektor

Die stagnierende Produktivität ist ein wichtiger Grund. An dieser Stagnation lässt sich aber etwas ändern, sagt Gustav Horn. Die Unternehmen, die sich seit Jahren zurückhielten, müssten mehr investieren - genauso wie der Staat, der sich auf die schwarze Null versteift: "Das zusammen könnte die Produktivität steigern."

Ökonomen sehen neben der Produktivität weitere Ursachen für das verhaltene Lohnwachstum. So verhalf der Beschäftigungsboom zwar zahlreichen länger Arbeitslosen zu einem Job - doch die können wegen oft geringer Qualifikation kaum auf bessere Bezahlung dringen. Die Beschäftigung nahm insgesamt stark zu - aber die große Zahl der Teilzeitarbeiter vermag ebenfalls kaum auf bessere Bezahlung zu pochen.

Ein zentraler Grund für die Lohnentwicklung aber führt zu Markus Völkls Schreibtisch in der Reisebranche, wo er nach 30 Jahren und trotz einer früheren Führungsposition weniger verdient als den deutschen Durchschnittslohn. Dienstleister wie Völkl werden generell schlechter bezahlt als Beschäftigte der Industrie. Das liegt etwa daran, dass Streiks als Druckmittel Fabriken lahmlegen können, während sie Servicefirmen weniger treffen.

Und es liegt daran, dass anders als im Dienstleistungssektor, die meisten Beschäftigten in der Industrie einer Gewerkschaft angehören. Das verleiht etwa der IG Metall die Macht, hohe Gehälter auszuhandeln. Für die Löhne insgesamt haben Tarifabschlüsse in der Industrie aber immer weniger Bedeutung, weil die Volkswirtschaft heute anders aussieht als früher. Während des Wirtschaftswunders arbeitete die Mehrheit der Bevölkerung in der Industrie. Heute ist es nur noch ein Viertel. Drei Viertel, also 30 Millionen Deutsche, sind bei Dienstleistern angestellt.

"Am billigsten ist der Kollege Computer"

Zwischen Industrie und Dienstleistern klafft ein Grand Canyon, selbst bei vergleichbaren Tätigkeiten. Ein Ingenieur beim TÜV Süd startet in der Regel mit 1200 Euro monatlich weniger in den Beruf als ein Ingenieur bei BMW. Bemerkenswert ist, dass der Unterschied in der Bezahlung zwischen Industrie und Dienstleistern in Deutschland besonders groß ist. Der Abstand der Arbeitskosten beträgt acht Euro die Stunde. Das ist doppelt so viel wie sonst im Euro-Raum.

Hagen Lesch wirft ein, viele deutsche Dienstleister hinkten der Industrie hinterher, was die Reaktion auf Globalisierung und Digitalisierung angehe. "Sie sind oft nicht bereit oder in der Lage, ihre Preise stärker zu erhöhen, was Lohnsteigerungen begrenzt." Jeder kann sehen, dass Banken, Versicherer oder Einzelhändler nach neuen Geschäftsmodellen fahnden. "Am billigsten ist der Kollege Computer", diesen Satz hört Markus Völkl von seinem Chef in der Reisebranche am häufigsten. Die Firma überlege bei einer neuen Aufgabe zuvorderst, ob sie einen Arbeitnehmer in Polen oder einen Computer in Deutschland einsetze. Höhere Löhne für deutsche Arbeitnehmer stehen da nicht im Fokus.

Die Lohnunterschiede wuchsen historisch. Früher hängte die Industrie Dienstleister bei der Produktivität ab, sagt Gustav Horn. Inzwischen gleiche sich die Wachstumsrate jedoch an. Grundsätzlich könnten die Löhne also ähnlich steigen, aber: "Die Gewerkschaften sind in wichtigen Dienstleistungsbranchen nicht stark genug, um das durchzusetzen." Markus Völkl würde wenigstens gern mal einen kleinen Ausstand in der Mittagspause lostreten. "Aber da würde sich wahrscheinlich nur eine Kollegin mit mir rausstellen."

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