Gedächtnisweltmeisterin im Interview:"Die Null ist eine Sau"

Datensprint, Binärziffernmarathon, Zahlensinfonie: Christiane Stenger, mehrmalige Gedächtnisweltmeisterin, erklärt, wie man sein Gehirn so trainiert, dass es zu unglaublichen Leistungen fähig ist.

J. Bönisch

Am Freitag und Samstag finden im baden-württembergischen Tuttlingen die Aesculap Memo Masters, die deutschen Gedächtnismeisterschaften, statt. Dabei messen sich die Teilnehmer in Disziplinen wie Datensprint, Binärziffernmarathon oder Zahlensinfonie. Christiane Stenger, mehrmalige Junioren-Gedächtnisweltmeisterin, erklärt, wie der Wettbewerb funktioniert - und wie man sein Gehirn so trainiert, dass es zu unglaublichen Leistungen fähig ist.

Stenger, oH

Gedächtnissportlerin Christiane Stenger: "Mit Systemen aus dem Gedächtnissport kann sich jeder Mensch unglaublich viel merken."

(Foto: Foto: oH)

sueddeutsche.de: Frau Stenger, wie kommt man auf die Idee, Gedächtnistraining zu seinem Sport zu machen?

Christiane Stenger: Aus Langeweile. In der zweiten Klasse hatte ich ständig Schmerzen, am Knie, im Bauch, am Rücken. Meine Eltern schleppten mich von Arzt zu Arzt, bis endlich einer von ihnen auf die Idee kam, dass das Problem vielleicht nicht mein Körper ist. Er schickte mich zu einem Intelligenztest. Danach war klar, dass ich einfach unterfordert war und mir deshalb aus Langeweile die Krankheiten ausdachte.

sueddeutsche.de: Wie lautete denn das Ergebnis des Testes? Oder sprechen Sie darüber nicht?

Stenger: Doch, mein Ergebnis lag bei 145. Allerdings halte ich Intelligenztests nicht für besonders aussagekräftig. Die Aufgaben daraus kann jeder trainieren und so sein Ergebnis verbessern.

sueddeutsche.de: Damit sind Sie hochbegabt.

Stenger: Ja. Deshalb durfte ich eine Klasse überspringen und an einem besonderen Förderprogramm teilnehmen. Dort wurde auch Gedächtnistraining angeboten. Nach ein bisschen Übung war ich so gut, dass ich an den Gedächtnisweltmeisterschaften teilgenommen habe. Inzwischen bin ich mehrmalige Junioren-Weltmeisterin.

sueddeutsche.de: Wie läuft so ein Wettbewerb ab?

Stenger: Das ist wie bei anderen Sportveranstaltungen auch. Die Teilnehmer messen sich in verschiedenen Disziplinen. Zum Beispiel muss man sich Spielkarten, Wörter, Namen und Gesichter merken, oder innerhalb von fünf Minuten so viele Ziffern wie möglich.

sueddeutsche.de: Wie viele Ziffern schaffen Sie denn innerhalb dieser Zeit?

Stenger: Mein persönlicher Rekord liegt bei 280 Ziffern. Ich weiß, das klingt unglaublich. Aber wenn man die Systeme aus dem Gedächtnissport anwendet, kann sich jeder Mensch so viel merken. Das könnten Sie auch.

sueddeutsche.de: Und wie?

Stenger: Sie müssen jeder Ziffer gedanklich einen Konsonanten zuordnen. Bei mir ist die Null zum Beispiel ein S, die Zwei ein N. Wenn ich die Zahl 20 betrachte, sehe ich vor meinem geistigen Auge ein N und ein S und verbinde die beiden Buchstaben zu dem Wort Nase. Steht das S allein, sehe ich eine Sau, denn Vokale zählen in diesem System nicht. Ein anderes Beispiel: Die Eins ist ein T, steht sie allein, sehe ich eine Tasse Tee vor mir. Die Sieben ist ein K oder ein CK. Muss ich mir die Zahl 17 merken, stelle ich mir eine Theke vor. So baue ich mir nach und nach eine kleine Geschichte zusammen: Eine Sau steht an der Theke und trinkt eine Tasse Tee. Oder ich stelle mir vor, welche Dinge ich im Supermarkt in den Einkaufswagen lade. Je außergewöhnlicher die Geschichte, desto leichter merke ich sie mir.

sueddeutsche.de: Sie haben in der Schule drei Klassen übersprungen und schon mit 16 Jahren Abitur gemacht. Offensichtlich helfen solche Systeme auch beim Lernen.

Auf der nächsten Seite: Wie man die Methoden der Gedächtnissportler auch im Job nutzen kann.

"Die Null ist eine Sau"

Stenger: Zuerst hatte ich Probleme, meine Methoden auch in der Schule anzuwenden, aber in der Oberstufe ist es mir gelungen. Heute gehe ich auch in 13. Klassen und erkläre den Schülern, wie sie Gedächtnistraining für ihre Abi-Vorbereitung nutzen können. Denn mit ein bisschen Übung lernt man auf diese Weise schneller, detaillierter und behält die Dinge auch viel länger. Wenn man sich außerdem immer wieder amüsante Geschichten einfallen lässt, macht es auch noch mehr Spaß als stumpfes Auswendiglernen. Inzwischen habe ich auch viele Kommilitonen an der Uni angesteckt. Sie bereiten sich mit Methoden des Gedächtnistrainings auf ihre Prüfungen vor.

sueddeutsche.de: Kann man die Systeme auch im Job anwenden? Angenommen, mir wird ein neuer Kunde, Geschäftspartner oder Kollege vorgestellt: Wie schaffe ich es, mir seinen Namen zu merken?

Stenger: Das Problem kenne ich, dabei ist es eigentlich ganz einfach zu lösen. Der erste Schritt ist natürlich, dass sich jeder bewusst sagen muss: Achtung, jetzt muss ich aufpassen. Und dann sollte man, ähnlich wie beim Zahlensystem, wieder Bilder mit dem Namen verbinden.

sueddeutsche.de: Haben Sie ein Beispiel?

Stenger: Nehmen wir an, uns stellt sich ein Franz Eckert vor. Bei Eckert denke ich an Ecke und präge mir gleichzeitig seine Geheimratsecken oder seine kantigen Gesichtszüge ein. Franz assoziiere ich mit Fransen und schaue dabei auf seinen fransigen Pony. Wenn ich dem Herrn das nächste Mal begegne, fallen mir diese Merkmale gleich auf und sein Name ist wieder da.

sueddeutsche.de: Was ist mit der wichtigen Gehaltsverhandlung beim Chef? Man legt sich alle Argumente zurecht, doch kaum sitzt man bei ihm im Büro, sind alle Gedanken wie weggeblasen und man stottert nur noch unbeholfen.

Stenger: In so einer Situation würde ich eine Route an meinem Körper entlang planen. Wenn mein erstes Argument ist, dass ich den Umsatz im vergangenen Jahr um zehn Prozent erhöht habe, stelle ich mir Folgendes vor: Ich stehe mit meinem Fuß, auf den eine große Zehn gemalt ist, auf einem riesigen Geldhaufen. Das nächste Argument ist vielleicht, dass ich neue Kunden akquiriert habe, der zweite Punkt an meinem Körper ist das Knie. Dazu stelle ich mir vor, wie meine neuen Kunden fröhlich auf meinem Knie sitzen und mir zuwinken. Im Gespräch selbst muss ich dann nur noch in Gedanken meine Körperroute abgehen, und schon fallen mir die Argumente wieder ein.

sueddeutsche.de: Wie lange braucht man als Anfänger, um mit solchen Systemen arbeiten zu können?

Stenger: Nach zwei bis drei Wochen kann das jeder - wenn er jeden Tag ein bisschen übt. Aber das geht ja schon auf dem Weg zur Arbeit: Man kann sich an der Ampel Kennzeichen merken oder in der U-Bahn die Gesichter der Fahrgäste mit Bildern verknüpfen.

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