Süddeutsche Zeitung

Ganztagsschule:"Dieses Projekt schreibt Schulgeschichte"

Hausaufgaben gibt es nicht mehr und Übungsstunden werden individualisiert: Lehrer und Forscher entwickeln eine neue Pädagogik für Ganztagsgymnasien.

Tanjev Schultz

Ein Pionier zu sein, ist schön, aber auch ganz schön anstrengend. Die Lehrer am Gymnasium Horkesgath in Krefeld erleben gerade, was es heißt, mutig neue Wege zu gehen. Seit Anfang des Schuljahres verwandeln sie ihr Gymnasium in einen Ganztagsbetrieb, und jeden Tag ergeben sich neue organisatorische und pädagogische Fragen, die auf eine Antwort warten. Hausaufgaben gibt es nicht mehr, die Übungsstunden sind individualisiert - was bedeutet das für den Fachlehrer, wenn er seinen Unterricht plant? In der Mittagspause sind die Fünftklässler nach wenigen Minuten mit dem Essen fertig, was geschieht in der restlichen Zeit?

Es ist ein spannender Prozess, sagt Schuldirektor Klemens Seth. Die Lehrer müssten sich noch mehr abstimmen. Das sei alles aber sehr aufwendig, und für attraktive Freizeit- und Entspannungsangebote, die den Jugendlichen die Ganztagsschule angenehm machen sollen, bräuchte Seth mehr Mitarbeiter. Immer mehr Schulen verwandeln sich in Ganztagsgymnasien, in Nordrhein-Westfalen soll es in jedem Schulbezirk mindestens eines geben.

Oft können die Schulen nachmittags aber nur ein dürftiges "Wellnessprogramm light" bieten, wie Thomas Rauschenbach, Direktor des Deutschen Jugendinstituts und einer der Autoren einer großen Studie über Ganztagsschulen, die bundesweite Situation kritisiert. Zu wenig genutzt werde die Möglichkeit, das Programm des Vormittags und des Nachmittags inhaltlich miteinander zu verschränken und so einen neuen pädagogischen Rhythmus zu finden.

In Nordrhein-Westfalen sollen die Schulen nun besser unterstützt werden. Das Kultusministerium und die Stiftung Mercator starten gemeinsam mit den Universitäten Bochum, Duisburg-Essen und Dortmund ein Projekt, das die Organisation und die Pädagogik der Ganztagsgymnasien voranbringen soll. Im Zentrum steht die allseits gewünschte "Kultur der individuellen Förderung".

"Dieses Projekt schreibt Schulgeschichte", sagt Wilfried Bos. Als Direktor des Dortmunder Instituts für Schulentwicklungsforschung hat er die Federführung für das Programm übernommen. In Studien wie der internationalen Lesestudie Iglu hat Bos immer wieder erfahren, wie sehr die soziale Herkunft den Bildungsweg der Schüler prägt. Viele kommen auch deshalb nicht aufs Gymnasium, weil ihre Eltern und Lehrer befürchten müssen, dass die Kinder in einer traditionellen Halbtagsschule zu wenig gefördert werden und ihnen die Familien zu wenig helfen können. In Ganztagsgymnasien, hofft Bos, werden mehr Migranten und Arbeiterkinder die Chance haben, Abitur zu machen.

Kein Traditionsgymnasium

Die Schule Horkesgath in Krefeld ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich die Gymnasien auf eine andere Klientel einstellen müssen. Es ist kein Traditionsgymnasium, auf das nur das Bildungsbürgertum seine Kinder schickt. Viele Kinder hier sind die ersten in der Familie, die später einmal studieren könnten. Ein Ganztagskonzept bietet ihnen Raum und Zeit für Übungs- und Vertiefungsstunden, für weniger Hektik im Unterricht und fächerübergreifendes, selbständiges Lernen. Davon profitieren am Ende alle Schüler - auch die Kinder bildungsbeflissener Akademiker.

In den kommenden sechs Jahren können sich 30 Gymnasien in Nordrhein-Westfalen an dem Programm, das Bos koordiniert, beteiligen. Insgesamt zehn Millionen Euro stehen bereit, den größten Anteil trägt mit 7,7 Millionen die Stiftung Mercator. Die Erfahrungen der teilnehmenden Schulen sollen später auch anderen zugutekommen und in die Fläche getragen werden. "Der Ganztag ist für die meisten Gymnasien vollkommen neu, die Pilotschulen sollen eine Vorreiterrolle übernehmen", sagt Schulministerin Barbara Sommer (CDU).

Jede einzelne Schule wird ernst genommen

Den Schulen werden verschiedene Module für die Organisations- und Unterrichtsentwicklung angeboten. Die beteiligten Wissenschaftler und Pädagogen legen Wert darauf, dass der Prozess nicht auf dem Wege des Verordnens von oben erfolgt. "Wir werden die einzelne Schule sehr ernst nehmen", sagt Bos. Die Bedürfnisse und Probleme könnten von Schule zu Schule unterschiedlich sein.

In dem Programm werden die Schulen Diagnose- und Förderkonzepte für Mathematik, die Naturwissenschaften und die Sprachförderung erarbeiten beziehungsweise verbessern und ausbauen. Ein anderes Modul betrifft die Schnittstellen zwischen Gymnasien und Grundschulen, Universitäten und der Berufsausbildung. Bis zu 5000 Euro im Jahr können die Schulen zusätzlich zu ihren derzeitigen Etats bekommen, außerdem Entlastungsstunden für die Lehrer.

Das Sekretariat ist nachmittags nicht besetzt

Klaus Seth, der Krefelder Schulleiter, hält die Ressourcen, die Ganztagsgymnasien bisher erhalten haben, für viel zu knapp bemessen. Zwar bekommt er einen Aufschlag von 20 Prozent für Personal, aber vor allem für die jüngeren Schüler in der fünften und sechsten Klasse sei das nicht ausreichend. Auch der organisatorische Mehraufwand bringt Seth oft in Bedrängnis. Das Sekretariat ist am Nachmittag nicht mehr besetzt.

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SZ vom 02.11.2009/holz
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